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nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 30
52. Jahrgang | Mai
ver.die
Fachgruppe Musik
Skandal um das Liederbuch der Bundeswehr
Ver.di im Nazi-Netz: Artikel aus „Kunst & Kultur“ auf
rechtsradikaler Homepage
Die Feststellung ist bitter: Die Neo-Nazis sind schneller als
die Bundeswehr! Die Bundesregierung ignoriert diese Tatsache! Und
die
Staatsmacht kann nichts machen! An den vielbejammerten Einsparungen
im Verteidigungsministerium liegt es diesmal nicht. Eine geistige
Haltung kostet kein Geld.
Aber die Fakten der Reihe nach
und ohne zynische Wertung:
Ein Artikel der ver.di-Zeitschrift „Kunst & Kultur“, der den
Skandal von Nazi-Liedern im letzten
Bundeswehr-Liederbuch „Kameraden singt!“ aufdeckte, wurde von Neo-Nazis
kopiert und auf eine ihrer Homepages gestellt. Ver.di stellte Strafantrag wegen
Volksverhetzung und wegen Verletzung des Urheberrechts. Die Staatsanwaltschaft
Berlin ermittelte daraufhin. Doch die Strafverfolgung hat keine Konsequenzen:
Der Anbieter der Nazi-Online-Seiten, ein gerichtsbekannter und vielfach polizeilich
gesuchter Faschist, ist amerikanischer Staatsbürger. Gary (Gerhard) Lauck,
so sein Name, lebt in Nebraska und dort sind seine Äußerungen wie
die Angebote von Nazi-Musik, -Symbolen, ja sogar KZ-Spielen durch das Gesetz
der Meinungsfreiheit geschützt. Die Justiz in den USA um Rechtshilfe zu
ersuchen, wäre demnach erfolglos.
NPD-Demonstration gegen
die Wehrmachtsausstellung in Berlin am 1. Dezember 2001.
Foto: Christian von Polenz
Unser Bericht „Ja, wir sind die Herren der Welt“ und
das Editorial „Was
singen die Soldaten“ in „Kunst & Kultur“ 6/2001 fand
durchaus eine kritische Resonanz. Unsere Mitarbeiterin Susann Witt-Stahl
hatte akribisch recherchiert, dass viele Lieder, die in der Bundeswehr befohlenerweise
gesungen werden, aus der Nazi-Zeit und entsprechenden Liedsammlungen stammen.
Bei manchen wurden im Liederbuch „Kameraden singt!“ die Autoren
weggelassen oder der Bonner Voggenreiter Verlag verschleierte durch Auslassungen
und Hinzufügungen die Herkunft und Liedhistorie. Dennoch behauptete
ein Sprecher des Verteidigungsministeriums: „Keines der Lieder“ bringe „Eroberungsgedanken“ zum
Ausdruck oder „pflegt ein überhebliches Pathos“. – Gleichzeitig
sah sich jedoch dieser Sprecher aus Mangel an Unterlagen „nicht in
der Lage, Auskunft zu den Sachverhalten zu geben“.
Mehrere Tageszeitungen berichteten über den von „Kunst & Kultur“ aufgedeckten
Skandal. Ein Kulturmagazin des Fernsehens drehte einen ausführlichen Beitrag über
das Thema und darüber, dass man im Ministerium keinen Anlass sieht, die
alle zehn Jahre stattfindende und längst überfällige Überprüfung
des Liederbuches von 1991 nachzuholen. Kein Thema ebenfalls in Berlin, dass
ein Rekrut (übrigens ein Gewerkschaftsmitglied) zu Strafarrest verurteilt
wurde, weil er sich geweigert hatte, das ehemalige Stammlied des NS-Kraftfahrerkorps
(NSKK), das „Panzer-Lied“, zu singen. – Keine Reaktion
im deutschen Friedensministerium.
Die Neo-Nazis waren, wie gesagt, schneller. Wie und warum der
Artikel „Ja,
wir sind die Herren der Welt“ ins Nazi-Netz gestellt wurde, weiß der
kompetente Staatsanwalt Günter Sohnrey von der Berliner Staatsanwaltschaft
auch nicht. Aus Geltungssucht und Genugtuung, dass beim Bund immer noch der
alte Geist weht und offen, wenn auch oft nicht erkannt, mitschwingt? Günter
Sohnrey, als Staatsanwalt auch „Internet-Spezialist“, muss sich
mit dieser Frage nicht einmal befassen. Er glaubt nicht einmal, dass – zumindest
aus seiner beruflichen Sicht – die Neonazis mehr Zulauf bekommen haben,
geschweige denn raffinierter geworden sind, beispielsweise durch den Umgang
mit neuen Medien. Die Ermittlungen würden allerdings erschwert, weil sich
jeder, der es wolle, Symbole, Texte und Musik „volksverhetzenden Charakters“ aus
dem Netz in die Wohnstube herunterladen könne, während früher
mehr Printmedien, Tonträger und Devotionalien direkt in die Hände
der Fahnder gelangten. „Die Spurensuche, das Verfolgen von Wegen, die
Ermittlungen von Netzwerken der Neo-Nazis sind schwieriger geworden“,
weiß der agile Staatsanwalt.
Sein Engagement freilich endet zwangsläufig an den Gesetzen der USA: „Die
würden Gary Lauck wegen so einer Web-Anzeige nicht ausliefern.“ – Zumal
Lauck nur wie ein Durchlauferhitzer funktioniert: Der Leiter der von ihm selbst
gegründeten NSDAP-Aufbauorganisation stellt nur den Platz im Internet
zur Verfügung, der von Nazi-Gruppen in Europa für ihre Informationen
und Traktate genutzt wird. Würden sie nämlich von Deutschland aus
oder einstigen Neo-Nazi-Basen in Dänemark und den Benelux-Ländern
ihre Internet-Seiten anbieten, gerieten sie in den Zugriffsbereich von Sohnrey.
Denn: „Obwohl der deutsche Gesetzgeber aus historischen Gründen
gegen Nazi-Propaganda und -Symbole viel strenger vorgehen kann als andere europäische
Länder, wo die sogenannte Meinungsfreiheit ihnen mehr gestattet, funktioniert
die Rechtshilfe inzwischen viel besser als früher.“ Stehen Sohnrey
und seine Kollegen den braunen Machenschaften in den USA und den Hetz-Daten-Bahnen
von dort aus also machtlos gegenüber? Ja und nein: Oft helfe, sagt Sohnrey,
der Einfluss von Organisationen und Persönlichkeiten, damit ein Provider
Infos und Angebote für Nazis aus dem Netz nimmt.
So verkaufe amazon.de seit einiger Zeit an deutsche Besteller
nicht mehr Hitlers „Mein
Kampf“. Aber das sind eher kleine Fische für den Staatsanwalt – so
wie die Anzeige von „Kunst & Kultur“ gegen Volksverhetzung,
weil wir unsere Recherche zu braunen Liedern bei der Bundeswehr sowieso ganz
eindeutig ans Verteidigungsministerium adressiert hatten.
Inzwischen können deutsche Soldaten in Afghanistan unbehelligt Nazi-Lieder
singen. Vielleicht lässt das Struck-Ministerium dem Friedenskurs im Irak-Krieg
ja Friedenstaten im Liedschatz der Bundeswehr folgen.