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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 11
52. Jahrgang | Juni
www.beckmesser.de
Three Inches
Wann ist ein Ende der Seuche in Sicht? Gestern allein wieder neun
Fälle, heute bis Mittag sieben! Im Schatten von SARS breitet
sich eine andere Infektion über den Erdball aus, derer man
sich als aktiver Internet-Nutzer nur schwer erwehren kann. Sie verbreitet
sich über E-Mail und attackiert dabei systematisch die offen
liegenden Schnittstellen der Websites, also die allgemein zugänglichen
Adressen wie info@ oder webmaster@. Doch sie befällt nicht
den Computer, sondern überträgt sich per Klartext und
hat direkt das Gehirn der hilflosen Webmaster und sonstigen Empfänger
im Visier. Mit andern Worten: Es handelt sich um Werbemails oder
Spam.
Es gibt verschiedene Typen dieser infektiösen Informationskrankheit.
Von den Trivialversionen soll hier nicht die Rede sein – von
der Reklame einer Firma, deren Kunde man einmal war oder von gelegentlichen
Veranstaltungshinweisen. Das ist der lebensnahe, sozusagen sympathische
Infomüll, ähnlich den Reklamesendungen der Post, die man
rasch überfliegt und dann in den Papierkorb befördert.
Eine verschärfte Version davon bildet die „Medienbetreuung“
der wie Pilze aus dem Boden schießenden PR-Kleinagenturen
im kulturellen Bereich. Rundfunkanstalten, Plattenfirmen und Veranstalter
übergeben ihre Öffentlichkeitsarbeit im Zuge des Outsourcing
zunehmend an Außenstehende, vermutlich sogenannte Ich-AGs.
Während die höflichen von ihnen erst fragen, ob sie einen
in ihren Verteiler aufnehmen dürfen, schießen andere
gleich mit der großen Kanone los. Damit wollen sie wohl dem
Auftraggeber ihre Tüchtigkeit beweisen. So landet dann in der
Mailbox in Oberbayern die großspurige Ankündigung eines
sensationellen Events irgendwo in Neukölln und als Zugabe wird
auch gleich noch ein Farbbild des Künstlers von 1,3 Megabyte
Größe dran gehängt. Der Ärger des ahnungslosen
Empfängers steigt proportional zur Download-Zeit dieses Edelschrotts.
Dass die Pusher-Lehrlinge damit genau das Gegenteil von dem erreichen,
was sie wollen, ist ihnen nicht aufgegangen.
Doch hartnäckiger, akuter und unangenehmer sind die internationalen
Werbekampagnen, die zunehmend die Postfächer überschwemmen
und offenbar strategisch geplant sind. Sie treffen aus allen Kontinenten
ein.
Da gibt es einmal die skurrilere Sorte, Typ „Tausendundeine
Nacht“. Eine solche Mail beginnt mit den Worten: „Sir,
I am Prince Dino Wanga. The son of former minister of finance (Prince
Wanga Makabo) of the Republic of...“ rt cetera. Der Prinz
schildert mir in bunten Farben sein Missgeschick, dass er auf Grund
gemeiner revolutionärer Umtriebe sein Vermögen von 12,5
Millionen Dollar über diplomatische Kanäle nach Belgien
schaffen musste. Und nun bedürfe er meiner Hilfe, um das Geld
vom Sperrkonto frei zu bekommen. Bei Erfolg erhielte ich 20 Prozent
Provision. Das flehende Schreiben endet mit einem ergebenen „God
bless you. Prince Dino Wanga.“
Fürstlich belohnte Philanthropie! Werden Hilferuf trotz allem
schweren Herzens in den Wind schlägt, hat immer-hin noch die
Möglichkeit, aus Hongkong eine vollautomatische Dreschmaschine
zu kaufen. Ein höflicher Mr. Wu bietet sie an, wobei er diskret
darauf hinweist, er habe aus seriösen Quellen erfahren, dass
man exakt an dieser Art von Produkt interessiert sei. Und wie es
sich für einen langmütigen Asiaten gehört, schickt
er, falls er keine Antwort erhält, die selbe E-Mail eine Woche
später nochmals. Klickt man dann auf den Link, mit dem man
sich angeblich aus der Mailingliste austragen kann, so kommt man
vom Regen in die Traufe: Nun folgen sich die Dreschmaschinen-Angebote
im Dreitage-Takt und jedes Mal doppelt. Die Rache des gelben Drachens
kennt kein Erbarmen.
Am weitesten fortgeschritten in Verkaufstechnik via E-Mail sind
aber wieder einmal unsere amerikanischen Freunde. Wo kämen
wir denn sonst hin, wenn sie nicht auch hier Weltmeister wären,
sie haben das ganze elektronische Gedöns ja schließlich
erfunden. Den psychologisch meisterhaft instrumentierten Überredungskampagnen
ist anzumerken, dass hinter ihnen das intellektuelle Kapital ganzer
Universitätsinstitute steckt. Zugleich verraten sie etwas von
den bewegenden Themen der Zeit. Eine große Nation, so heißt
es, hat auch große Träume.
Charakteristisch für diesen quasi-wissenschaftlichen Typ
von Spam ist, dass er gar nicht auf den Kopf, sondern ganz woanders
hin zielt. Das geschieht mit allen rhetorischen Tricks. Eine Variante
beginnt etwa im seriös-besorgten Stil eines „Bunte“-Lebensberaters:
„Most men who have troubles or difficulty won’t speak
openly to their wives or girlfriends...“ Zwei Zeilen weiter
kommt’s dann heraus: Der Penis ist zu kurz! Doch keine Bange,
es gibt ein Heilmittel für diese männlichste aller Katastrophen.
Die ultimative Pille, die die leidige Angelegenheit in kürzester
Zeit beheben beziehungsweise in die Länge ziehen wird. Zielwert
ist „three inches“. Ob zusätzlich oder insgesamt,
ist nicht ganz klar.
Andere Argumentationsmuster sind zielstrebiger und offenbar für
den gestressten Manager gedacht, der knappe Formulierungen wünscht.
Schon die Betreffzeile stellt die Sache klar: „Just make it
larger“, „Are you not able to get up?“ Der Kern
der Message ist jedes Mal derselbe: „Three inches“,
offenbar die neue Businessnorm. Der Name des Absenders hingegen
ist jedes Mal anders. Vermutlich werden Legionen von Ich-AG-Subunternehmern
von der amerikanischen Pharma-Industrie für ihre menschheitsbeglückenden
Zwecke eingespannt.
Über die Ursachen und Motive dieser weltweiten Kulturinitiative
darf gerätselt werden. Wollen die Amis nach der erfolgreichen
Besetzung der irakischen Ölfelder nun auch die Weltherrschaft
unter der Gürtellinie erringen? Wollen sie damit einmal mehr
die bösen Franzosen abstrafen? Endgültig den unheimlichen
Schwarzen Mann entzaubern?
Der Welt zeigen, dass es jetzt für sie nur noch aufwärts
geht? Solch himmelstürmenden Fragen kön- nen an dieser
Stelle nicht erschöpfend behandelt werden. Höchste Zeit
also, dass die nächste Kolumne wieder mehr Bodenhaftung zeigt.
Als Thema bietet sich die Kulturpolitik in Deutschland an. Da weist
ja bekanntlich alles nach unten.