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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 35
52. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Blumen, Bienen und Schmetterlinge
Musiktheater beim dramaturgisch neu gestylten Kurt Weill Fest
in Dessau, Teil II
Weills Opernerstling „Der Protagonist“, Einakter von
1926 auf ein Libretto von Georg Kaiser, frappiert bis heute durch
seine Modernität. Dass sich im Stück ein Schauspieler
mit seiner Rolle eines Mönchs so sehr identifiziert, dass er
im Grenzbereich zwischen Fiktion und Realität ebenso dessen
bigotte Lüsternheit wie die eigene inzestuöse Zuneigung
zur Schwester auslebt, rief damals einen Skandal hervor.
Doch es geht vielschichtiger zu: Der Mord an der vergebens Geliebten
findet auf offener Bühne statt, und das innerhalb einer zur
Unterhaltung des Herzogs anbefohlenen heiteren Tanzpantomime. In
Dessau war vielleicht der beste Einfall des Inszenierungsteams um
Herrmann Schneider, dieses Tanzvergnügen so gelangweilt und
lustlos abzuspulen, dass der gewaltsame Einbruch der Realität
umso stärker wirken konnte – die Dramatik des Lebens
übertrifft die der Kunst. Ansonsten aber konnte die bloße
Abfilmung des Geschehens per Video und das Abspielen über Monitor
kaum der Vermischung virtueller und realer Ebenen gerecht werden
– der bloße Einsatz neuer Medien macht noch keine Transzendenz.
Die verschenkte sze-nische Umsetzung eines hochinteressanten Werkes
schmerzte bei durchaus respektablen musikalischen Leistungen umso
mehr. Sängerisch sind Frieder Aurich und Allison Oakes in ihren
schwierigen Hauptrollen in Topform – Dessau zeigt sich hier
auch als wichtiges Forum für Nachwuchskräfte. Das Orchester
der Weimarer Musikhochschule „Franz Liszt“ beißt
sich unter dem wirklich in letzter Sekunde eingesprungenen Benjamin
Roser zunehmend erfolgreich durch die polyphon verwickelte Partitur,
findet vor allem mit seinen Bläsern als auf die Bühne
verpflanztes „Tanzorchester“ zum ausbalancierten Klang.
Natürlich, die profilierte Klarheit, die Weill spätestens
ab „Mahagonny“ erreichte, ist in diesem überkomplexen,
ein wenig abstrakt expressionistischen Idiom noch nicht zu finden.
Doch fasziniert schon hier das gekonnte, dem Sujet angemessene Jonglieren
mit verschiedenen Stilebenen. Welch unglaubliches Bühnentalent
Weill hatte und wieviel uns davon durch die Zeitläufe und vielleicht
auch die Anpassung des Komponisten an reduzierte Möglichkeiten
verloren gegangen ist, zeigte bezaubernd und bewegend das allererste
Musiktheaterwerk des Zwanzigjährigen: von der Ballettpantomime
„Die Zaubernacht“ existiert nur noch ein handschriftlicher
Klavierauszug mit wenigen Hinweisen auf Handlung und Instrumentation,
nach denen Meirion Bowen das solistisch transparente Arrangement
für das Kölner Ensemble Contrasts erstellte. Gesungen
wird hier nur ein einziges Mal, wenn die Mutter (Ingrid Schmithüsen),
die im Traum die Fähigkeit zeigt, sich in ein Pferd zu verwandeln,
ihren halbwüchsigen Knaben in den Schlaf wiegt. Ansonsten lässt
Weill ganz im Sinne seines Lehrers Busoni die Instrumentalmusik
erzählen, die sinnlich schwelgende Melodik mit ausgespartem
neoklassizistischem Pulsieren verbindet, Wärme und Distanz.
In seiner Inszenierung liest Milan Sládek aus ihr den Zukunftstraum
des Jungen, das Erwachen von Sexualität und erster Liebe, bebildert
dies liebevoll-ironisch mit bunt herumgaukelnden Blumen, Bienen
und Schmetterlingen, erzeugt mit den Mitteln des alten tschechischen
Schwarzen Theaters, raffinierten Beleuchtungseffekten und vor allem
einer lebendigen, punktgenau und differenziert Verläufe nachzeichnenden
Musikalität. „Der Pantomime muss innerlich singen, seine
Gesten müssen Melodik und Dynamik enthalten“, ist das
Credo des slowakischen Allround-Künstlers.
Mozart gehörte zu Weills Vorbildern, was gerade dem Erstling
deutlich anzumerken ist. Wenn Birnbaum in einem seiner zahlreichen
„Crossover“-Events eine deutsche Erstaufführung
von Peter Greenaways völlig unbekanntem Film „M is for
Man, Music, Mozart“ zur Live-Musik von Louis Andriessen präsentiert,
so tätigt er damit einen mindestens dreifachen dramaturgischen
Schachzug:
Auch Weill liebte Grenzüberschreitungen, wandte filmschnittartige
Techniken an, und zum „Dreigroschen“-Drive passen Andriessens
poppig-parodistische Repetitionen ebenso gut wie zum barocken Gestus
der ebenfalls in Dessau konzertant zu erlebenden „Beggar’s
Opera“. So zeigte sich das Festival lehrreicher und zugleich
weiter gefächert auf seinen „Protagonisten“ Weill
konzentriert als in früheren Jahren, weniger auf konkrete Wirkung
im Stadtraum etwa durch Einbeziehung regionaler Laien- und Schüleraktivitäten
bezogen, während sein Thema „von der belebenden Wirkung
des Geldes“ durch die Vorjahresproduktion „Die Bürgschaft“
genauer und ernsthafter vermittelt wurde als durch die eher fantasiereich
verspielten Einblicke in zweifellos spannendes Musiktheater.