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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 36
52. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Stimmen eines ganzen Jahrtausends
IV. Festival für Vokalmusik „a capella“ in Leipzig
1997 organisierte das ensemble amarcord das erste Festival für
Vokalmusik in Leipzig. „Klein, fein und etwas chaotisch,“
so der interne Slogan über „a capella“. Vokalensembles
aus aller Welt und verschiedenster Stilrichtungen trafen sich im
Zweijahresrhythmus. Mit dem diesjährigen vierten Durchlauf
vom 3. bis zum 11. Mai ist das Festival für Vokalmusik „a
capella“ erwachsen geworden.
Auch das ensemble amarcord gehört längst nicht mehr zum
Nachwuchs. Auf der Visitenkarte der fünf Ex-Thomaner stehen
Preise renommierter Wettbewerbe, internationale Konzerterfahrung
und ein euphorischer Fankreis. Geschult bei den King’s Singers
und dem Hilliard-Ensemble ensteht amarcords berückender Klang
aus der Mischung von Stilsicherheit, makelloser Intonation und einem
Hauch instinktiver, sympathischer Unbekümmertheit. Die diesjährigen
Festivalkonzerte umfassen stilistisch nahezu ein Jahrtausend. Die
geographische ,Achse‘ verbindet das alte Europa mit Simbabwe
und Madagaskar und wiegt mindestens ebenso schwer.
Sie singen von ihrem Lebensgefühl, von Traditionen und sind
stolz, Madagassinnen zu sein. Die Ausstrahlung von Vicky und Delake
Gelle ist mehr als ursprünglich, springt fast animalisch an.
Das Duo Tamae aus Südmadagaskar tanzt, singt – und röhrt.
Das Röhren ist eine brachiale Stimmtechnik, „Drimotse“
genannt. Die Moritzbastei kocht, das Publikum tobt und auch von
anwesenden Landsleuten der Schwestern kommt Anerkennung: „Drimotse
können nur wenige.“
Dagegen hält alles den Atem an, als die zwölfstimmige
Missa „Et ecce terrae motus“ von Antoine Brumel glasklar
durch die Thomaskirche schwebt. Das Huelgas Ensemble unter Dirigent
Paul Van Nevel fasziniert durch hochsensitive Interpretation dieses
kunstvoll und exzentrisch verwobenen Renaissanceabenteuers. „Werd’
ich am Galgen hochgezogen/Weiß ich, wie schwer mein Arsch
gewogen.“ Mit dem Dichter François Villon verabschieden
sich das pest- und kriegsgeschüttelte Mittelalter und die derbe
Lebenslust der französischen Frührenaissance.
Bevor jedoch die vollendete aristokratische Poesie in Mode kommt,
erlebt das Chanson im 16. Jahrhundert ein goldenes Zeitalter. So
wundert sich niemand, als, klingend aus fünf Männerkehlen,
eine Hundemeute über die Bühne tobt. Das Ensemble Clément
Janequin aus Paris hat neben „La Chasse“ (Die Jagd)
hervorragend musizierte, vollmundig-freche Happen von Humor und
berührenden Liebesliedern auf seinem Programm „Le Cris
de Paris & autres Fricassées parisiennes du XVI. siècle“.
Natürlich fehlt bei „a capella“ die Romantik nicht.
Die Singphoniker aus München präsentieren die (deutsche)
Männergesangskultur mit etwas viel Parodie bei Franz Schubert
und viel zu wenig bei Biedermeierkollege Konradin Kreutzer. Stimmlich
exzellent, hat das Ensemble vor allem große Momente bei Liedern
von Edvard Grieg und Leos Janácek. Einziger musikalischer
Wermutstropfen sind die Swingle Singers, mit 40-jährigem großen
Namen aus dem United Kingdom angereist. Die Show um die Candy-Arrangements
erinnert an Cheer-Leader-Gymnastik und häufig bleibt die Intonation
auf der Strecke. In die Schuhe der prominenten Gründer ist
die dritte Generation noch nicht hineingewachsen.
Der Festivalabschluß im Großen Gewandhaussaal endet
eine halbe Stunde vor Mitternacht. Noch einmal stellt sich Afrika
mit Insingizi aus Simbabwe vor. Zwei Nachwuchs-Ensem-bles überraschen:
Calmus aus Leipzig mit hoher Stimmkultur bei Romantik und Zeitgenossen
sowie Basta. Das Gewandhaus ist fast ausverkauft, andere Konzerte
waren es nicht. Zu 80 Prozent Gesamtauslastung hat es nicht gereicht.
Unterm Strich liegt eine Negativbilanz von 19.000 Euro auf den Schultern
der Macher. In der Manöverkritik sondieren Ensemble und Manager
Tobias Rosenthal die Konse-quenzen zukünftiger Form und Präsentation.
„A capella“ findet vom nächsten Jahr an jährlich
statt. Denn künstlerisch fällt das Festival für Vokalmusik
in die Rubrik ,hochkarätig‘.