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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 36
52. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Befreit von barocker Formenstrenge
Die Münchner Oper mit Händels „Saul“ in
einer Inszenierung von Christof Loy
Das Spiel mit den Formen birgt seit jeher kreatives Potenzial,
wenn es darum geht, musikalische Vorstellungen dramaturgisch darzustellen.
Dabei werden häufig, bewusst oder unbewusst, Grenzüberschreitungen
in Kauf genommen, um Neues auszuprobieren. Dass Gattungsbegriffe
vor allem auf dem Gebiet der Musik eher akademischer Natur sind,
weiß jeder, dem die Freude am Erleben kreativer Gestaltungsprozesse
noch nicht abhan-den gekommen ist.
So ist es also nicht nur legitim, sondern zeugt von neugierigem
Ausprobieren, wenn auch in Münchnen ein Händel’sches
Oratorium auf der O-pernbühne realisiert wird. Christof Loy,
Folkwang-Schüler und ehemals Assistent von Luc Bondy, stellt
sich erfolgreich der Herausforderung, die in der dramaturgischen
Diskontinuität dieses Oratoriums liegt und versteht es, den
ständigen Wechsel der Zeiten und Orte in moderne Chiffren einer
allgegenwärtigen Zerissenheit zu verwandeln. Daneben befreit
er die Protagonisten von jeglicher barocker Formenstrenge und zeigt
sie als Menschen des 21. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen drei
Männer, die auf
unterschiedliche Art und Weise aneinander gekettet sind: hier König
Saul, der den jungen, erfolgreichen Goliath-Bezwinger an seinen
Hof binden möchte; da Jonathan, Sauls Sohn, der mit seiner
Freundschaft zu David den konventionellen Anstandsregeln seiner
Umgebung entkommen möchte. Und im Zentrum des Geschehens, fast
wie im Auge des Taifuns, David. Sein Charakter ist zwiespältig
und unausgegoren; ein Mensch, der es sich mit niemandem verderben
will und doch merkt, dass er sich, je weiter das Geschehen voranschreitet,
entscheiden muss zwischen Macht und Loyalität. Die Entwicklung
der handelnden Personen geht einher mit einer zunehmenden Dramatisierung
des Bühnengeschehens. Zu Beginn des Oratoriums finden sich
Chor und Sänger auf der von Herbert Murauer (Bühne und
Kostüme) im streng weißen Klassizismus gehaltenen und
mit Stuhlreihen bestückten Bühne ein; wie in einem Konzert
singt man von mitgebrachten Noten. Statisch und nahezu unbeweglich
beginnt der Verlauf des Abends. Erst allmählich treten die
einzelnen Figuren aus ihren angestammten Oratorien-Rollen und entwickeln
eine intensiv theatralische Operngestik: Die Stühle fliegen
von der Bühne.
Was in den ersten Akten crescendohaft aufgebaut wird, steigert
sich im dritten zum beklemmenden Höhepunkt: Zweimal hat Saul
versucht seinen Nebenbuhler David loszuwerden, zweimal ist es Jonathan
gelungen, seinen Freund vor seinem Vater zu schützen; doch
letztlich entzieht sich David allen Vereinnahmungen: Sowohl Saul
als auch Jonathan müssen sterben, und erst jetzt, nach deren
Tod, wird sich David seiner selbst und seines großen Verlustes
bewusst, den er in der großen Abschiedsarie „Elegy on
the death of Saul and Jonathan“ beweint. Der David des jungen
Amerikaners David Daniels ist der ungekrönte König des
Abends. Daniels, der in München bereits als Nerone in Monterverdis
„L’incoronazione di Poppea“ und in Händels
„Rinaldo“ große Erfolg feierte, beglückt
nicht nur durch seinen glockenreinen Altus; vielmehr gelingt es
ihm auch, die dunkle und menschliche Seite seiner Partie mit großer
Intensität zu verkörpern. Ebenbürtig an seiner Seite
agieren Alastair Miles (Saul), John Mark Ainsley (Jonathan), Rebecca
Evans (Merab) und Rosemary Joshua (Michal). Mit Ivor Bolton am Pult
erweist sich das Bayerische Staatsorchester einmal mehr als ein
Klangkörper, der einen idealen Mittelweg zwischen historischer
Aufführungspraxis und Anforderungen einer großen Opernbühne
souverän beschreitet. Glänzend disponiert auch der Chor
unter der fachkundigen Leitung von Udo Mehrpol. Vier Stunden Händel
ziehen an den Münchnern wie im Flug vorüber; der Abend
endet mit großen Ovationen und macht Appetit auf mehr.