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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 35
52. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Die Leichtigkeit moralfreien Seins
Fredrik Zellers Musiktheaterstück „Irma Vep“
in Schwetzingen
Oper und ihr bürgerlich steifes Ambiente gehört aufgeräumt,
wenn neues Leben sich darin ansiedeln soll. Der Stuttgarter Komponist
Fredrik Zeller, Jahrgang 1965, macht nur wenig Hehl daraus, dass
ihm die großen tradierten Werte dieses Genres relativ egal
sind. Oper ist für ihn kein Pathos-Transport, sondern wertefreier
Spielplatz wie der von der Betreiberseite attestierte Freiraum auf
der Computer-Bildschirmfläche, wo man nach Belieben ballern
darf. Da war es nur allzu recht, dass Zeller zusammen mit Christian
Herzig und Yvonne Gebauer bei der Fahndung nach einem geeigneten
Sujet auf die Stummfilmserie „Les Vampires“ von Louis
Feuillade aus den Jahren 1915/16 stieß.
Irma Vep: der Terror ist
überall. Foto: Monika Rittershaus
Dort war anarchisch surreal vorgeformt, was man suchte. Die Vampire
sind eine Terrorgruppe mit manch kleinbürgerlichen Schwächen,
die den Reichen an den Kragen will – und vor allem an die
Colliers, die um diesen hängen: das richtige Reinigungsmittel,
um die verstaubte Bühne der Oper vom Muff zu befreien. Da wird
geliebt, geklaut, gefoltert und gemordet, das leichte Sein dessen,
dem Moral fremd ist, wird wie mit einem Joystick auf der Bühne
bewegt. Irma Vep ist das spiderwoman-artige Supergirl dieser Truppe.
Irma Vep? Aha – ein Anagramm von Vamipre! Das „Musikschauspiel
über die große Wirklichkeit dieses Jahrhunderts –
jenseits der Mode, jenseits des Geschmacks“ (so die Verhütungsformel
des Wortes Oper) liebt solche Spiele. „Seeing him“,
da wo erste Zärtlichkeit flackert, wird zu „Geheimnis“
und reanimiert somit in Scrabble-Verschiebungen alte Hintergründigkeiten.
Auch Bezüge zu heutigen Zeiten des internationalen Terrorismus
winken. Eine verschlüsselte Botschaft, die man gegen Ende des
zweieinhalbstündigen Antimoral-Puzzles Irma zukommen lässt,
gibt zunächst die Buchstaben a und t preis. „Ata“
taucht im verstümmelten Text auf. Terror ist der Zeit enthoben,
er albert durch die Generationen. Als Spielfigur der neuen, virtuellen
Realität, das will der Schluss des Stücks vermitteln,
ist Irma Vep unsterblich. Aber das, auch diese Botschaft kommt rüber,
ist gar nicht so wichtig. Konstant bleibt einzig das Entertainment
der also ins Ballastfreie vertriebenen Zeit.
Die Musik von Fredrik Zeller macht da voller Vergnügen mit.
Sie harkt in Klängen, die sich selbst in die Quere kommen.
Auf der Bühne wird fast nur gesprochen: Es ist belangloses
Zeug, so wie man sich eben unterhält, wenn man sich wenig mitzuteilen
hat: Smalltalk. Man sagt sich deckungsgenau am Telefon das Gleiche
wie im Face-to-Face-Gespräch auf gleicher Augenhöhe. Schleifen
und Repetitionsstrukturen entstehen, die sich die in mehreren Schichten
übergelagerte Musik nicht entgehen lässt. Gearbeitet wird
ideenreich mit Zeitlupe und Raffern, mit Totlaufschlaufen, grellen
Banalitäten und herben Zwischenschlägen. Samplings, Ensemblestrukturen
eines kammerorchestral kleinen Orchesters und, als gewichtigster
Part, stimmliche Geräuschkaskaden der bestens aufgelegten Neuen
Vokalsolisten Stuttgart unterminieren das Geschehen. Sie doppeln
die Ereignisse auf der Bühne gewissermaßen in komponierten
O-Ton-Schichten (der Wa-Wa-Dämpfer auf Trompete und Posaune
als Mickey-Mouse-artige Konterkarierung von Sprache feiert hier
fröhliche Urständ), dann wieder schütten sie die
gesprochenen Worte kaskadenartig zu. Zufalls- oder Random-Prozesse
spielen hierbei eine Rolle, von Aufführung zu Aufführung
bleibt ungesichert, was in der klanglichen Hüllkurve untergeht.
Das macht nichts, denn man weiß ohnehin, was abgeht. Ablenkung
und Konzentration, Strukturen des Videogame-Players werden ins Spiel
integriert. Alles bewegt sich im wertefreien Raum oder wird zur
Farce. So zelebriert Zeller das traditionsschwere Opernzwischenspiel
nach dem Höhepunkt, hier der Gasvergiftung und anschließenden
Ausraubung einer High-Society-Runde, als Ausstellungsakt. Die Orchesterbühne
wird angehoben, Musiktheater wandelt sich zum Konzert mit Auftritt
des Dirigenten, Applaus und Verneigung. Es erklingt ein „Extended
Klaviertrio“, vom Synthesizer mit Gesangslauten aufgefrischt,
die sich in Richtung von Muezzin-Rufen (Terrorismus, Islam, fundamental,
aha) bewegen, vom Schlagwerk vorangetrieben. Die Musik des Zwischenspiels
mit dem griffigen Titel „Anschlag“ hat keine Form, sie
ist aus Prinzip diffus und anti. Das Klaviertrio mit seinen Rezepten
der kompositorischen Differenzierung hat in dieser Umgebung keine
Chance, lächelnd verweist Zeller auf das Abgestandene solcher
Konzertformen. Am Schluss dieses Zwischenspiels kommt aus dem Lautsprecher
„Klammer zu“, die hilflos museale Musiktradition verschwindet
wieder nach unten.
Zeller übte lustvoll wühlend Rache an Gesellschaft und
Musikbetrieb. Die Lust an der rotzigen Genauigkeit des Comic-Strips
(Videosequenzen der über die Dächer fliehenden Irma Vep
friesieren zum Beispiel diese Ästhetik auf) sollte an die Stelle
der falschen Richtigkeit – „Rettet die moderne Welt“,
proklamiert ein Politiker in seiner gespielten Abscheu vor den Verbrechen
– treten. Hier aber ging letztlich einiges schief. Comic-Strukturen
im Musiktheater laufen Gefahr, auf Plattfüßen daherzukommen.
So wirkte auch hier allzuviel tönern. Das Timing stimmte nicht,
wurde angefüllt von Schwerfälligkeiten der theatralen
Handlung, die auch immer wieder peinliche Ungeschicklichkeiten offerierte.
Schärfe der Zeichnung unterblieb. Die Gegenwart soll von der
Gegenwart befreit werden, proklamieren die Terroristen. Das war
auch Stoßrichtung Zellers. Das Spiel aber, dem es naturgemäß
an Genauigkeit und am kritischen Biss mangelt, blieb, obwohl ihr
enthoben, in seiner virtuellen Unschärfe in ihr kleben. Das
Stück tat in seiner Ausbruchsattitüde nur so, die Kraft
des Nachhaltigen fehlte. Was blieb, war Achselzucken. Vielleicht
ist es das Achselzucken der jungen Generation vor dem Popanz alles
werteorientierten Tuns. Ich spiele, also bin ich. Aber wozu spiele
ich überhaupt?