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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 33-34
52. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Wer hört, sieht auch
Wittener Tage für neue Kammermusik
Vom 9. bis 11. Mai 2003 veranstalteten der Westdeutsche Rundfunk
und die Stadt Witten die 35. Wittener Tage für neue Kammermusik.
Sechs Konzerte, mehr als zwanzig Ur- und deutsche Erstaufführungen,
vier Performances sowie drei Bild- und Klanginstallationen vermittelten
wieder einen spannenden Einblick in aktuelles Komponieren. Im Programm
bildeten Werke zweier Komponisten Schwerpunkte: der Portugiese Emmanuel
Nunes und der Österreicher Bernhard Lang. Verdienstvoll auch,
dass im Zusammenhang mit dem Thema der Kammermusiktage auch Werke
von Roman Haubenstock-Ramati aufgeführt wurden. Auch Rückblicke
können gelegentlich Zeichen in die Zukunft setzen.
Klingende Pappröhren
mit Lichtkreisen: Thomas Heyducks Klanginstallation im Gewölbekeller
des Hauses Witten. Foto: Charlotte Oswald
Augen und Ohr, Ohr und Auge: lauter geheimnisvolle Koinzidenzen.
Im Vorwort zu den diesjährigen Wittener Tagen für neue
Kammermusik verweist Harry Vogt auf Jean Paul: Dieser bezeichnete
das Auge als Hörrohr der akustischen Phantasie. Rede, damit
ich dich sehe, sagte (angeblich) Sokrates: Im Klang des gesprochenen
Wortes visualisiert sich das Gegenüber. Wenn der Maler Paul
Klee formuliert, dass Kunst nicht das Sichtbare wiedergibt, es vielmehr
erst sichtbar macht, so verweist er damit auf das Prozesshafte des
künstlerischen Schöpfungsaktes. Kunst erforscht sozusagen
die verborgenen Grundstrukturen des Sichtbaren: warum etwas sichtbar
wird. Kunst ist in diesen Augenblicken der Chemie und der Physik
näher als der vage als Imagination bezeichneten Vorstellung
von künstlerischer Tätigkeit. Qualifizierte Imagination
entsteht erst, wenn sie sich mit „Forschung” im weitesten
Sinn verbindet. Wenn der späte Richard Wagner, nach dem „unsichtbaren
Orchester”, sogar von einem „unhörbaren Orchester”
träumt, dann darf man das nicht wörtlich verstehen: Es
drückt die Sehnsucht aus zu erfahren, wie es der Musik möglich
ist, ihre Wirkung zu entfalten. Wo liegt das Geheimnis verborgen?
Verschlossen im einzelnen Ton? Und wie lässt sich dieses „unhörbare”
Geheimnis enthüllen? Im schweigenden Lauschen? Im forschenden
Hineinhören in das verkapselte Klangmaterial?
In Donaueschingen entstanden im letzten Herbst lebhafte Diskussionen
über Sinn und Inhalte eines Festivals mit moderner Musik. Das
Wort vom „großen Werk” geisterte durch die Gespräche
– als ob man dieses Werk einfach so bestellen könnte.
Die Musiktage neuer Musik, sei es in Donaueschingen oder jetzt wieder
in Witten, zeichnet weder der übliche Festivalcharakter aus
noch präsentieren sie sich primär als Messe, auf der man
neue Stücke ordern kann. Beide Veranstaltungen darf man vor
allem als Laboratorien bezeichnen, Stätten, wo Musikforscher
– sprich: Komponisten – ihre Forschungsergebnisse vorstellen.
Alles andere wäre als sekundär anzusehen, einschließlich
des „großen Werkes”. Erklingt dieses dennoch,
zumindest als Vorahnung, umso besser.
Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2003 erhoben den Forschungsaspekt
konsequent zum thematischen Schwerpunkt. Stichwort: Auf der Suche
nach den verborgenen Strukturen. Die Titel der einzelnen Konzerte
signalisierten die Tendenz: Spiegel, Labyrinth, Geräusch-Arien,
Innere Stimmen, Metamorphosen, Erinnerung – alles Versuche,
Musik, ihre Klänge und Töne, auf dem Weg ins Innere bis
in den rätselhaften Ursprung zu erkunden und von dort in neuer
Gestalt im Werk gleichsam zu materialisieren. Etliche neue Namen
in Witten widersprachen dabei dem Vorwurf, die Neue Musik-Festivals
setzten zu sehr auf bereits etablierte Komponierprominenz. Der Berliner
Arnulf Herrmann (Jahrgang 1968) verformt in seinem Ensemblestück
„direkt entrückt” unablässig einige wenige
musikalische „Ereignisse“, um im ständigen Wechseln
und Einkreisen die Materialvorlage erschöpfend auszukundschaften.
Die Spanierin Elena Mendoza-López (1973) erfindet eine Raummusik
(Titel: „Dort, doch, auch, nicht, vielleicht“) für
fünf Instrumentalgruppen, in die als Klangelement auch Sprache
eingebunden ist: fragmentarische Partikel aus einem Enzensberger-Gedicht
(„Windgriff“). Ein Stück, das seine strukturellen
Bestandteile im Offenlegen zugleich wieder verrätselt. Der
Italiener Aureliano Cattaneo (1974) beschwört in „Minotaurus,
dreaming“ für Sopran, Countertenor und zwei Instrumentalgruppen
den bekannten Mythos, gespiegelt in Texten von Edoardo Sanguineti
und Friedrich Dürrenmatt: Im verspiegelten Labyrinth ist nicht
nur der Stiermensch eingeschlossen, auch Cattaneos Stück „spiegelt“
mit den Mitteln von Reduktion, Verzerrung, Parodie dem Zuhörer
eine italienische „Oper“ vor: Hörend „sieht“
man die kombinierten Versatzstücke einer Oper, ihrer Form und
Struktur: Intelligent komponiert.
Zwei „Arrivierte“ rückten sozusagen zwangsläufig
in den Mittelpunkt des Wittener Programms: der portugiesische Komponist
Emmanuel Nunes (Jahrgang 1941) und der Österreicher Bernhard
Lang (1957). Nunes könnte sicher das simple Verlangen nach
dem „großen Werk“ befriedigen, wenn sein Komponieren
nicht so komplex und hochreflektiv angelegt wäre. Existentielle
Lese-Erfahrungen bei Dostojew-skis Erzählung „Die Sanfte“
flossen in das Ensemblestück „Improvisation I –
für ein Monodram“ sowie in das Bratschensolo „Improvisation
II – Portrait“ ein. Das Ensemblestück gewinnt in
der dichten Strukturierung eine fast körperlich spürbare
plastische Beredtheit, das Bratschensolo (wieder grandios gespielt
von Christophe Desjardins) öffnet ebenso beredt ein wahrhaft
unerhörtes Klangspektrum, in dem Vielschichtigkeit und Expression
eine faszinierende Verbindung gewinnen. Auf der Suche nach dem verborgenen
„Geheimnis“ versichert sich Nunes in seinem Trio „Rubato,
Registres et Résonances“ (für Violine, Flöte/Oktobassflöte
und Klarinette/Bassklarinette) der Kollegenschaft Johann Sebastian
Bachs: dessen dreistimmige Invention f-Moll BWV 780 wird mit den
im Titel bezeichneten Mitteln „bearbeitet“ – was
zu oberflächlich gesagt ist. Es handelt sich um eine komponierte
Interpretation von höchster Eindringlichkeit. Eine subjektive
Vergegenwärtigung, die im Werk Bachs das Eigene entdeckt und
„übersetzt“. Dem Trio des ensemble recherche mit
Melise Mellinger (Violine), Shzuyo Oka (Klarinetten) und Martin
Fahlenbock (Flöten) ist eine großartige Interpretation
zu danken.
Bernhard Lang steuerte mit „DW 6a“ (für E-Viola/E-Violine
und Loop-Generator – überlegen exekutiert von Dimitrios
Polisoides und Lang selbst am Generator) und „DW 9 –
Tulpe/Puppe“ zwei Arbeiten seiner Differenz-Wiederholungs-Stücke
bei. Lang überträgt Begriffe aus der DJ-Kultur wie Remix,
Reset und vor allem Loop-Schleifen (das Hüpfen der Nadel des
Plattenspielers um ein oder zwei Rillen zurück) äußerst
präzis in seine Musikästhetik. In „DW 9“ werden
Texte von Christian Loidl in das Differenz-Wiederholungsverfahren
einbezogen, das heißt, sie werden gleichsam nach Innen erforscht,
neu beleuchtet, fragmentiert. Eine Sängerin (brillant Salome
Kammer) strukturiert die Texte zwischen verschleifendem Stammeln,
hochgespanntem Ton, Abbrüchen und stotternden Repetitionen:
eine mustergültige Interpretation durch das Klangforum Wien
unter Emilio Pomàrico und ein komponierter Laborversuch zum
Thema Kommunikation. Lang betätigte sich auch als Entdecker:
In Roman Haubenstock-Ramatis ,,morendo“ spürte er durch
wiederholtes Hineinhören in das elektronische Band die vom
1994 gestorbenen Komponisten geplante Flötenstimme auf. Die
im Material enthaltene Stimme musste nur noch mit entsprechender
Technik herausgefiltert und für E-Bassflöte eingerichtet
werden. Die Flötistin des Klangforum Wien, Eva Furrer, die
von Haubenstock-Ramatis Absichten noch persönlich im Gespräch
etwas erfahren hatte und die Bernhard Lang zur Komplettierung anregte,
war die technisch souveräne wie überlegen gestaltende
Interpretin der Wittener Aufführung, die einen nachhaltigen
Eindruck hinterließ.
Das weitgespannte Thema der Wittener Kammermusiktage, die Recherche
nach den verborgenen Strukturen in der Musik, in Klängen und
Texten, kreisten auf vielfältigste Weise auch die anderen Komponisten
mit ihren neuen Werken ein. Johannes Maria Staud schrieb mit „Berenice.
Lied vom Verschwinden“ eine sensible Klangstudie auf einen
Text von Durs Grünbein, die in einer neuen Oper für die
Münchner Biennale 2004 Verwendung fin-
den wird. Carola Bauckholt überträgt in „Kugel“
Klänge von rollenden Ku- geln auf drei Celli, was eine plastische
Raum-Klang-Spannung ergibt, in der Bewegungen immer wieder angestoßen
werden. Jürg Widmann stellte seine inzwischen auf drei Stücke
angewachsene Serie von Violin-Etüden vor, kontrastreich, lebhaft
strukturiert, im Tempo-Rausch die neueste dritte Etüde. Carolin
Widmann war die perfekte Interpretin hinter einem riesigen Halbkreis
von Notenständern. Widmanns Vokalstück „Signale“
gewinnt im Aufheulen der Sirenen und Schreie einen geradezu existentiellen
Schreckensgestus. Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart exekutierten
das brillant, ebenso wie Michael Jarrrells „...car le pensé
et l’être sont une mème chose...“ auf Fragmente
eines Lehrgedichts von Parmenides und die amüsant-geistvolle
„Still“-Komposition von Markus Hechtle, mit Sprecher,
vier Männerstimmen und einem Text von Giacomo Leopardi an einem
„klingenden Tisch“: auch dies eine Variation zum Thema
Kommunikation.
Erwähnt seien auch Enno Poppes Ensemblewerk „Wand“,
in dem der Komponist zum eigenen Erstaunen durch Verlangsamung des
Tempos einen gehobenen Tonfall zurückgewinnt: auf der Suche
nach neuer-alter Form? Gustav Friedrichssohn schrieb mit dem Viola-solo-Stück
„bis an das Ende“ eine, wie er sagt, „gelebte“
Musik, die in der Darstellung durch den phänomenalen Christophe
Desjardins eine enorme Dichte und Präsenz erreichte. In seinem
„zweiten Versuch über Rimbaud“ für sechs Vokalisten,
Posaune und Schlagzeug mit dem Titel „Départ“
entwickelt Jörg Birkenkötter eine ebenso komplexe wie
sensible Korrespondenz zwischen Rimbauds Texten und komponierter
Übersetzung bis hin zur Auflösung im subtil durchgehörten
Klang. Dass auch Gérard Grisey mit seinem „Solo pour
deux“ (1981) für Klarinette und Posaune im Programm Eingang
fand, war nicht nur eine Reverenz, sondern auch Hinweis auf die
Aktualität seines Schaffens – Ernesto Molinari (Klarinette)
und Uwe Dierksen (Posaune) waren die kompetenten Interpreten.
Es gab auch wieder mehrere Performances (einige eher etüdenhaft-tastend)
und drei Klang-Installationen, unter denen Nikolaus Heyducks „Tape
Noise Tubes” aus hängenden Pappröhren mit Resonanz-Lautsprechern
am überzeugendsten geriet: suggestive Klang-Grabungen im Gewölbekeller
des Hauses Witten. In einem anderen Raum des Hauses Witten zeigte
der Amerikaner Dan Senn seine Klanginstallation „Waves of
Grain“, ein „automatisiertes“ Kammerstück
für Video, Schlagzeug und Stimme: eine ästhetisch aparte
Erinnerung an Landschaft und Menschen der eigenen Heimat, sehr persönlich
zu begreifen. Walter Fähndrich und Claudio Moser schließ-lich
schauten in ihrer Musik-und Bildinstallation „Am Fenster“
sozusagen „aus dem Fenster, was zu beobachtender Meditation
animierte. Nach den Heyduck-Grabungen im Gewölbekeller erwiesen
sich auch die Grabungen im Tagebau in diesem Witten-Jahr als durchaus
ergiebig. Dass man neben der Lang-Adaption ein weiteres Werk Roman
Haubenstock-Ramatis ins Programm genommen hatte („Alone II”)
war mehr als nur eine Reverenz: Der Komponist befand sich schon
zu Lebzeiten mit diesem 1969 geschriebenen Stück auf der Höhe
der Gegenwart. Ein notwendiges Nachwort: Als Ensemble-Interpreten
wirkten diesmal das Klangforum Wien, das ensemble recherche und
die Neuen Vocalsolisten Stuttgart mit. Alle leisteten ein unglaubliches
Arbeitspensum, perfekt, auf höchstem Niveau. Ideale Partner
der Komponisten, weil sie nicht nur meisterhaft spielen, sondern
auch konstruktiv mitdenken und mitkomponieren. Neue Musik braucht
dieses adäquate Engagement des Interpreten.