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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 15
52. Jahrgang | Juni
Deutscher Kulturrat
Aufatmen in der Bildungspolitik?
Ergebnisse der IGLU-Studie vorgestellt · Von Gabriele
Schulz
Als am 8. April 2003 in Berlin gemeinsam von der Präsidentin
der Kultusministerkonferenz Staatsministerin Wolff aus Hessen und
der Bundesbildungsministerin Bulmahn die Ergebnisse der IGLU-Studie
vorgestellt wurden, war ein Aufatmen in der Bildungspolitik zu vernehmen.
Anders als noch in der im letzten Jahr vorgelegten PISA-Studie,
der internationalen Untersuchung zur Lesekompetenz, zu Mathematik
und Naturwissenschaften der 15-jährigen Schülerinnen und
Schüler, schnitten deutsche Grundschülerinnen und -schüler
in der Internationalen Grundschul-Untersuchung (IGLU) deutlich besser
ab.
Untersucht wurde in der IGLU Studie die Lesekompetenz von Schülerinnen
und Schülern am Ende der vierten Jahrgangsstufe. Zusätzlich
wurde in der Erweiterungsuntersuchung IGLU-E, an der Schulen aus
zwölf Bundesländern teilnahmen, die Leistungen in Mathematik,
Naturwissenschaft und Orthographie untersucht. Mit der IGLU-Studie
liegen für Deutschland erstmals bundesweite, international
vergleichbare Daten zu den getesteten Leistungen von Grundschülerinnen
und -schülern im Übergang zur Sekundarstufe I vor.
Die Studie bestand aus einem Test, der ergänzt wurde durch
einen Schülerfragebogen, Fragebögen für Lehrer der
Fächer Deutsch, Mathematik und Sachkunde, einen Elternfragebogen
sowie einen Schulleiterfragebogen.
Im Lesekompetenztest wurde so- wohl die Kompetenz im Umgang mit
literarischen Texten als auch mit Sachtexten getestet. Die Auswertung
der zusätzlichen Fragebögen erlaubt vertiefende Aussagen
zum Fachinteresse, zur Selbsteinschätzung der Schülerinnen
und Schüler, zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und den
Chancen Lesekompetenz zu erwerben. Außerdem bietet sie die
Möglichkeit die Schulorganisation der teilnehmenden Länder
in Bezug zum Abschneiden der Schülerinnen und Schüler
zu setzen.
Die Testorganisation war von der International Association for
the Evaluation of Educational Achievement (IEA) vorgegeben. Die
IEA hatte be-reits in der Mitte der 90er-Jahre die internationale
Vergleichsstudie zu Ma-thematik und den Naturwissenschaften TIMSS
verantwortet. International läuft IGLU unter dem Namen Progress
on International Reading Literacy Study (PIRLS). In jedem der 35
Teilnehmerstaaten ist ein so genannter National Research Coordinator
(NRC) für die Durchführung und Leitung der Studie verantwortlich.
Mitglieder des Konsortiums
In Deutschland oblag diese Verantwortung Wilfried Bos (Lehrstuhl
für Quantitative Methoden und Internationale Bildungsforschung
am Institut für International und Interkultu- rell Vergleichende
Erziehungswissenschaft des Fachbereiches Erziehungswissenschaft
an der Universität Hamburg). Weiter gehörten dem nationalen
Konsortium an: Manfred Prenzel (Geschäftsführender Direktor
des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften
(IPN) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Renate
Valtin (Lehrstuhl für Grundschulpädagogik am Institut
für Schulpädagogik und Pädagogische Psychologie an
der Humboldt-Universität zu Berlin), Gerd Walther (Lehrstuhl
für Didaktik der Mathematik am Mathematischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität
zu Kiel). Die Arbeit wurde begleitet durch einen wissenschaftlichen
Beirat.
Für die Ergebnisse konnten die Fragebogen und Tests von 211
Schulen der 214 teilnehmenden Schule aus dem ganzen Bundesgebiet
genutzt werden. Damit wurden in Deutschland 98 Prozent der erhobenen
Daten in die Auswertung einbezogen. Gemessen wird mit IGLU die Lesekompetenz
im Sinne der Fähigkeit, „Lesen in unterschiedlichen,
für die Lebensbewältigung praktisch bedeutsamen Verwendungssituationen
einsetzen zu können“ (W. Bos, E.-M. Lankes, M. Prenzel,
K. Schwippert, G. Walther, R. Valtin (Herausgeber): Erste Ergebnisse
aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe
im internationalen Vergleich. Münster, New York, München,
Berlin 2003, Seite 73). Analog hierzu wird in IGLU-E ein naturwissenschaftliches
beziehungsweise mathematisches Grundverständnis, dass zur Teilhabe
an einer zunehmend durch Technik geprägten Welt befähigt,
getestet. IGLU und IGLU-E können also Aufschluss über
die Grundbildung in den genannten Fachbereichen am Ende der Grundschulzeit
liefern. Sie geben keine Auskunft über die Qualität der
Grundschule allgemein.
Das positive Ergebnis der IGLU-Studie nach dem Schock der PISA-Studie
war, dass deutsche Grundschülerinnen und -schüler den
Vergleich mit ihren Altersgenossen aus anderen Ländern nicht
zu scheuen brauchen. Die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler
liegen sowohl in der Lesekompetenz als auch in Mathematik und Naturwissenschaften
im oberen Drittel der Vergleichsstaaten.
Ungenutzte Potenziale
Umso schockierender erscheinen vor diesem Ergebnis die Ergebnisse
der PISA-Studie, die die deutschen Schülerinnen und Schüler
auf die hinteren Plätze verwiesen hat. Den Grundschullehrerinnen
und -lehrern gelingt es nicht nur, den Schülerinnen und Schülern
die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, sie vermögen
dieses vor dem Hin- tergrund heterogener Lerngruppen. Die Primarstufe
ist jene Schulstufe, in der leistungsstarke und leistungs- schwache
Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden.
Erst im Übergang zur Sekundarstufe I erfolgt in Deutschland
eine Differenzierung der Schülerschaft hin zu den erwünschten
homogenen Lerngruppen im dreigliedrigen Schulsystem.
Zwar zeichnet sich auch am Ende der Grundschullaufbahn bereits
eine Risikogruppe von Schülerinnen und Schülern ab, deren
Lesekompetenz nicht ausreichend ist, doch ist die- se Gruppe im
Vergleich zur PISA-Untersuchung vergleichsweise klein. Ihr Vorhandensein
gibt aber den Hinweis, dass bereits in der Grundschule Schülerinnen
und Schüler noch gezielter im Lesen gefördert werden müssten.
Eine verbesserte Förderung müssten aber nicht nur die
leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler erhalten.
Dieser Befund gilt gleichermaßen für die leistungsstarken
Schülerinnen und Schüler. Hier bestehen nach Aussage der
Autorinnen und Autoren noch ungenutzte Potenziale. Erfreulich an
den Ergebnissen der IGLU-Studie ist, dass deutsche Schülerinnen
und Schüler im Vergleich zu den Altersgenossen anderer Staaten
Kompetenzen im Lesen erworben haben, die sich über literarische
und Sachtexte gleichmäßig erstrecken. In anderen Staaten
klaffen die Ergebnisse, was die Textsorten anbelangt auseinander,
das heißt, dort wird teilweise einseitig das Lesen fiktionaler
oder nichtfiktionaler Texte in den Vordergrund ge-stellt. Auf der
Haben-Seite kann eben-falls verbucht werden, dass die Leseleistungen
von Mädchen und Jungen annähernd gleich sind. Zwar schneiden
Mädchen im Lesen literarischer Texte etwas besser ab als Jungen,
doch sind die Unterschiede keines-falls vergleichbar mit den gravierenden
Unterschieden in der Lesekompetenz der 15-jährigen Jungen und
Mädchen der PISA-Studie.
Jungen und Mädchen aus der Stichprobe der IGLU-Studie gaben
gleichermaßen an, gerne zu lesen oder aber auch gerne am Sachkundeunterricht
teilzunehmen. Daraus folgt, dass die geschlechtsspezifischen Zuweisungen
„Mädchen sind gut in Deutsch“ und „Jungen
sich gut in Mathematik und Naturwissenschaft“ nicht ohne weiteres
bestätigt werden. Auch wenn eine stärkere Affinität
der Mädchen zum Lesen und der Jungen zu Mathematik und Naturwissenschaft
bereits im Übergang zur Sekundarstufe I festzustellen ist.
Die Leistungspotenziale der Grundschülerinnen und -schüler
wurden von Lehrplanexperten der Bundesländern in allen getesteten
Fächern geringer eingeschätzt, als sie tatsächlich
waren. Das heißt, sowohl die Experten für die Grundschulzeit
als auch Experten für die Sekundarstufe I trauten den Schülerinnen
und Schülern weniger zu, als sie tatsächlich konnten.
Die Autorinnen und Autoren der IGLU-Studie mahnen daher mehr pädagogischen
Optimismus für die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit
der Grundschülerinnen und -schüler an. Sie vertreten die
Auffassung, dass angemessenere Leistungserwartungen an deutsche
Schülerinnen und Schülern dazu beitragen können,
einer erheblich größeren Anzahl an Schülerinnen
und Schüler qualifiziertere Schulabschlüsse zu ermöglichen.
Ein großes Fragezeichen steht nach den vorliegenden Ergebnissen
der IG-LU-Studie hinter der Frage, was in der Sekundarstufe I mit
den Schülerinnen und Schülern geschieht. Anders als in
anderen Ländern, in denen deutliche Lernfortschritte zu bobachten
sind, so dass sich mitunter von einem unteren Platz in der Rangliste
der IGLU-Teilnehmerländer ein gehobener Platz in der Rangliste
der PISA-Teilnehmerländer emporgearbeitet wird, schneiden in
Deutschland die 15-Jährigen im internationalen Vergleich deutlich
schlechter ab, als es am Ende der Primarstufe zu erwarten gewesen
wäre. Die bereits im Rahmen der PISADiskussion aufgeworfene
Frage nach dem Nutzen einer frühen Differenzierung der Schülerinnen
und Schüler in einem dreigliedrigen Schulsystem muss im Lichte
der IGLU-Ergebnisse erneut betrachtet werden. Denn offensichtlich
gelingt es weder den Hauptschulen die vergleichsweise leistungsschwachen
Schülerinnen und Schüler entsprechend zu fördern,
noch den Gymnasien relativ leistungsstarke Schülerinnen und
Schüler zu höheren Leistungen zu motivieren. Die Autoren
der IGLU-Studie resümieren, dass „das Ziel der frühzeitigen
(externen) Differenzierung, nämlich Leistungsschwache und Leistungsstärkere
durch Trennung in verschiedene Schulformen optimal zu fördern
und weiterzuentwickeln, für den Bereich des Leseverständnisses
verfehlt wird“ (Bos, W. et al., Seite 137).
Stand der Lehrerausbildung
Aufgeworfen wird durch die IGLU-Studie erneut die Frage der Lehrerausbildung.
Die Ausbildung der Grundschullehrerinnen und -lehrer, auf die von
den Fachkollegen der Sekundarstufe I und II oftmals herabgesehen
wird, qualifiziert offenbar in stärkerem Maße dazu, mit
heterogenen Lerngruppen umzugehen und möglichst vielen Schülerinnen
und Schülern am Ende der Primarschulzeit adäquate Kompetenzen
im Lesen, in Mathematik, Sachkunde und Orthographie zu vermitteln.
Über die Gründe kann an dieser Stelle nur gemutmaßt
werden. Die stärkere Ausrichtung des Studiums auf den späteren
Arbeitsplatz Schule sowie ein Selbstverständnis, das neben
der Vermittlung von Fachwissen erzieherische Kompetenzen einschließt,
tragen sicherlich dazu bei, dass Grundschullehrerinnen und -lehrer
den Kindern die erwarteten Qualifikationen besser vermitteln können.
Verstärkt stellt sich nach der IGLU-Studie die Frage nach
bundesweiten Bildungsstandards. Insbesondere in der Teilstudie zur
Orthographie zeigte sich, dass keine verbindlichen Standards darüber
existieren, in welcher Klassenstufe welche orthographischen Kenntnisse
erwartet werden. Dieses steht im krassen Gegensatz zur hohen Wertschätzung,
die die Rechtschreibung in unserer Gesellschaft erfährt. Die
vermehrte Aufmerksamkeit, die dem Lesen als Teilbereich der kulturellen
Bildung seit Erscheinen der PISA-Studie geschenkt wird, wird durch
die IGLU-Studie bestätigt. Gerade bei jüngeren Kindern
besteht eine große Bereitschaft sich mit literarischen, aber
auch mit Sachtexten aus-einander zu setzen. An dieser Bereitschaft
und Neugier gilt es, in der weiterführenden Schule anzuknüpfen
und fächerübergreifend das Lesen zu fördern. Ein
Anliegen, das die Stiftung Lesen bereits 1988 in der ersten Ausgabe
der Konzeption Kulturelle Bildung des Deutschen Kulturrates formuliert
hat und in ihrer Arbeit konsequent verfolgt.
Dass das Leben nicht nur aus Schule besteht, wird durch die IGLU-Studie
erneut bestätigt. Soziale und kulturelle Faktoren spielen eine
entscheidende Rolle für den künftigen Lernerfolg von Kindern.
So zeichnet sich bereits in der Grundschule ab, dass Migrantenkinder
Schwächen im Bereich Lesen aufweisen und einer stärkeren
Förderung bedürfen. Der seit der PISA-Studie öffentlich
debattierte Handlungsbedarf wird also durch IGLU noch einmal unterstrichen.
IGLU zeigt auch auf, dass die Erfolge von Müttern als „Hilfslehrer“
mit einem Fragezeichen versehen werden müssen. IGLU-E belegt,
dass rechtschreibschwache Kinder länger an den Hausaufgaben
sitzen und häufiger mit ihren Mütter üben als andere.
Sie sind dennoch schwach in der Orthographie. Die Autoren der
IGLU-E-Studie verweisen nachdrücklich darauf, dass Mütter
nicht zu Nachhilfelehrern ausgebildet sind. Die Diskussion um die
Ganztagsschule wird durch IGLU wahrscheinlich neue Schubkraft bekommen.
Zu wünschen ist, dass dabei vermehrt das gemeinsame Lernen
von Kindern verschiedener Leistungsstärken ebenso stärker
in den Blick rückt wie der Erziehungsauftrag in einer ganztägigen
Betreuung. Die kulturelle Bildung kann hier einen wesentlichen Beitrag
leisten.