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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 5
52. Jahrgang | Juni
Feature
Adorno 2003 – Vergessen durch Erinnern
Eine Biografie im Schatten des kalten Krieges · Von Martin
Hufner
Adorno, Marx u.a.
Selbstorganisiertes Seminar zur Entwicklung eines kritischen Gesellschaftsbegriffs
mit Texten von Adorno, Marx u.a. 14. – 21. März 2003
im Spessart. Tel: 040/43 17 47 39; E-Mail: ollitolli@aol.com
Eine Anzeige in Jungle World, siebter Jahrgang [12. März 2003],
S. 26, (Kleinanzeigenteil): Man weiß nicht so recht zu sagen,
was Adorno und Eisler eigentlich noch im 21. Jahrhundert verloren
haben. Wenn Walter Benjamins These stimmen sollte, dass im kleinsten
Dokument der ganze Geschichtsprozess aufbewahrt sei, so darf einen
der zitierte Zeitungsausschnitt nicht gerade froh stimmen. Ein Seminar
mit Texten von Adorno und Marx im Spessart, als E-Mail-Adresse fungiert
ein Postfach des gegenwärtig weltgrößten Medienunternehmens:
America Online/Time Warner. Ist das einer der Unterwanderungsprozesse,
also der Versuch, von innen heraus und durch die Medienmacht hindurch
und im Spessart, wie eine Motte in ihrem Mantel einen „kritischen
Gesellschaftsbegriff“ zu formulieren? Ich weiß weder,
zu welchen Ergebnissen dieses Seminar gelangte, noch ob es wenigstens
„ollitolli“ im Spessart war.
Barbarei der Erinnerung
Es scheint gerade so, als ob einem die Dokumente des letzten Jahrhunderts,
gerade auch die künstlerischen, nicht mehr als Substanz zufallen.
Das komplette Jahrhundert wird überschattet von Äußerungen
menschlicher Barbarei. Kein Bereich aus Kunst und Wissen lässt
sich mehr unverwandelt zurückholen. Von Adorno bleibt gegenwärtig
auch nicht viel übrig außer diese neuen Erinnerungsbilder,
die man zumal anlässlich einer Jubiläumssituation wieder
soweit hervorkramt, damit man sie nur schneller vergessen kann.
Die Sache lässt sich mit einem Jubiläum prima erledigen.
Etwas Schlechtes sagen, das tut man nicht, es sei denn, es habe
jemand anderes dies gesagt, der selbst auf dem gleichen Jubiläumsniveau
ist wie der zu Ehrende. Das ist eine gute Zeit für ein Herumfummeln
in den tiefen Taschen des Privaten. Anekdoten kann man herauskramen
(lassen), Tratsch funktioniert natürlich noch besser und sicherlich
findet sich auch irgendwo ein Brief, der peinlich berühren
kann. Man kann die Personen aber auch ehren, indem man sie zu Material
macht, zu einem beliebigen Gegenstand der Erkenntnis. Wenn dies
im Jubiläumsjahr passiert, dann hat man dafür den besten
Grund gefunden, den zu Ehrenden zu entwerten. Denn für ein
ganz gewöhnliches Jahr scheint offenbar der Inhalt oder Gehalt
seines Werkes zu schwach. In diesem Adorno-Jahr, das auch ein Berlioz-Jahr
ist, wie es ein Bix-Beiderbecke-Jahr ist, packt man also die „Negative
Dialektik“ mal wieder ins geistige Marschgepäck, wo man
sie ganz tief einlagert, entrüstet sich über „Philosophie
der neuen Musik“, und am bes-ten man bekommt sowieso alles
auf einmal unter den Hut: Im Beiderbecke-Berlioz-Adorno Jahr. Man
liegt meines Erachtens nicht falsch, wenn man sich eingesteht, dass
Adorno im Jahr 2003 so präsent oder wichtig ist wie 2002.
Rückblick
Testseite für die Kritische
Theorie, im Entstehen begriffen und schon fertig.
In den siebziger Jahren wurde es fast zu einem Sport in der westdeutschen
Musikwissenschaft, Adorno nach allen Regeln der Wissenschaft lächerlich
machen zu wollen, das Werk auf vermeintliche Kernsätze zu reduzieren
und möglichst in die Erstarrung zu bringen oder ihn zu imitieren.
Oskar Negt hat die sogenannten orthodoxen Schüler Adornos folgendermaßen
kritisiert: „Die strikte Anwendung Ador-no’scher Gedanken
führt zu unlebendiger Imitation, der natürlich die originale
Spontaneität der Ursprungsideen fehlt. Das ist der Tod der
Theorie: dass man sie wiederholt“ (Oskar Negt, Unbotmäßige
Zeitgenossen, Annäherungen und Erinnerungen, Frankfurt/M. 1994,
S. 27). Bloß nicht anschließen, nur nicht den Versuch
unternehmen, Adorno weiter zu denken und zu entdecken. Nach Adornos
Tod kroch es dann aus allen Löchern: Adorno habe das Singen
abgeschafft, Adorno habe Strawinsky nicht leiden können, Adorno
sei Schuld an der Isolation der Neue-Musik-Szene, Adorno habe den
Jazz nie verstanden, kurzum: Adorno hat der Musikkultur eigentlich
nur Schaden zugefügt, Adorno sei bloß ein Schwätzer
gewesen, der nicht einmal komponieren konnte. Ausnahmen finden sich
sehr selten: Zum Beispiel bei Oskar Negt (nur ein Beispiel: Arbeit
und menschliche Würde, Göttingen 2001) und Alexander Kluge
oder später in den 80er-Jahren in einigen philosophischen Arbeiten
beispielsweise von Josef Früchtl (Mimesis. Konstellationen
eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg 1986) oder Anke
Thyen (Negative Dialektik. Zur Rationalität des Nichtidentischen
bei Adorno, Frankfurt/Main 1989). Ein anderer Neuansatz wie in Steffen
Mahnkopfs „Kritik der neuen Musik. Entwurf einer Musik des
21. Jahrhunderts“ (Kassel 1998) bleibt gefangen in einer dogmatisch-einseitigen
Lesart, wie sie oben Negt kritisiert hat, ist aber immerhin den
Versuch wert gewesen.
Doppelmoppel
Es bietet sich ein kurzer Blick an auf ein anderes Gesicht: Hanns
Eisler, den Komponisten, mit dem Adorno eine duchwachsene Freundschaft
verband, die allerdings unterirdisch in den Schriften der beiden
zahlreiche ganz konkrete Verbindungen aufweist (siehe dazu meinen
Beitrag auf dem Eisler-Symposium 1998: http://www. kritische-musik.de/noframes/eisler-ador
no.shtml). Dennoch wird noch immer sowohl von West- wie von Ostwissenschaftlern
eine unbedingte Gegenläufigkeit beider Autoren behauptet, zuletzt
in den Frankfurter Adorno-Blättern 7 (2001). Diese Vereinnahmungen
sind die letzten, freilich harmlosen Ausläufer des Kalten Krieges.
Sie führen allerdings immer noch zu einem verstellten und verengenden
Blick: Adorno und Eisler sind noch zu Lebzeiten zu ideologischen
Plakaten des Systems degradiert worden, gleichwohl sie eigentlich
mehr verband als trennte.
Damit sollen nicht die Unterschiede unterschlagen werden, die es
natürlich gibt. Doch das kritische Potenzial von Adorno und
Eisler liegt nicht im Trennenden, sondern im Verbindenden. Diese
Perspektive ist bis heute verschlossen geblieben und lagert gewissermaßen
noch im Giftschrank der bis heute anhaltenden Spaltung Deutschlands
nach dem Zweiten Weltkrieg.
BRD – DDR
Nur einmal hypothetisch gefragt: Wäre es denkbar gewesen,
dass Hanns Eisler nach Frankfurt/Main gegangen wäre, während
Adorno in Frankfurt/Oder sein Domizil gefunden hätte? Komisch,
aber eine solche geografische Konstellation scheint kaum vorstellbar.
Warum eigentlich? Und warum sollte man sich dieser hypothetischen
Situation überhaupt stellen? Weil es zeigt, worin die größte
Differenz zwischen Adorno und Eisler tatsächlich liegt: Nämlich
in ihrer gegenseitigen Isolation durch Systeme hindurch.
Zwischen Kommunistenhassern und Imperialismusfeinden waren Adorno
und Eisler wie in Töpfen eingekocht. Da ist Adorno, für
den sich niemand in den 50er-Jahren wirklich interessiert hat, den
die Studentenbewegung der 60er-Jahre ebenso erfreut wie schließlich
zermürbt hat. Und da ist Hanns Eisler, der verdiente Künstler
des Volkes, der sich krumm genug bog, um 1948 bis 1950 den neuen
sozialistischen Staat mit Musik und mit ästhetisch mehr oder
minder großem Erfolg zu unterbauen. Beide waren naiv genug
zu glauben, man benötige sie. Und beide, Eisler etwas später,
konnten feststellen, dass man staatlicherseits, gesellschaftspolitisch
gesehen, kaum einen Pfifferling auf sie gab: „Ich bin froh,
wenn überhaupt einer der Herren ein Stück von mir spielt.
Und glauben Sie mir, es spielt kein Herr mehr ein Stück von
mir – oder sehr selten. Wissen Sie warum? Weil es zu schwierig
ist. Er muss studieren, muss nachdenken; er muss fünf Proben
haben, statt zwei. Deswegen werde ich nicht gespielt in unserer
guten, lieben DDR, wo ich mich also wirklich zu Hause fühle.“
(Eisler, Fragen Sie mehr über Brecht, Darmstadt/Neuwied 1986,
S. 200). Eisler ging an gegen die „Dummheit in der Musik“
und Adorno gegen die „Dummheit in der Reflexion.“ Wen
hat es interessiert?
Ernster Gesang: Vers une musique informelle
1961 – Adorno und Eisler stehen quer. „Ich bin gegen
das schlechte Hören und gegen die schlechten Interpreten und
ich bin gegen die schlechten Komponisten, die Dummheiten, Schwulst,
Dreck und Schwindeleien in der Musik ausüben. Ich bekämpfe
das seit 1918. Heute ist 1961. Ich gebe zu, ich bin besiegt worden“
(Eisler, Fragen Sie mehr über Brecht, Darmstadt/Neuwied, S.
192). Adorno resignierte mit dem Satz, der Utopie anvisiert: „Die
Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen,
von denen wir nicht wissen, was sie sind“ (Adorno, Gesammelte
Schriften Bd. 16, Frankfurt/Main 1984, S. 540).
1962 – Eisler kümmerte sich offenbar bei der Komposition
der „Ernsten Gesänge“ nicht mehr primär darum,
was er dem Staat schulde. Die „Ernsten Gesänge“
waren und wurden nie „Volkes eigen“: „Ich glaube,
dass ein junger Mensch in der DDR das dritte Lied, ‚Die Verzweiflung‘,
kaum goutieren wird. (...),Die Verzweiflung‘ ist natürlich
ein Lied, das in einem sozialistischen Land kaum ein Komponist komponiert
haben würde. Vor allem ich – ein alter Kommunist! –
komponiere plötzlich ,Die Verzweiflung‘! Das mag einen
Sinn haben für Leute, die sich in besseren Zeiten um meine
Kunst kümmern werden“ (Eisler, Fragen Sie mehr über
Brecht, Darmstadt/Neuwied, S. 280). Oder: „Was momentan notwendig
ist, weiß ich nicht. Da ich die Oper für schwachsinnig
halte – schon wegen der Sänger, die ja unerträglich
sind – und die Symphonien, wie Sie sehen, auch für schwachsinnig
halte, gibt es nur etwas, was notwendig wäre: Das Schweigen“
(Eisler/Bunge, S. 284). Über Strawinsky schreibt Adorno zur
gleichen Zeit hochachtungsvoll: „Strawinsky hat die musikalische
Pflicht der Freiheit verleugnet, vielleicht unter der Übermacht
objektiver Verzweiflung, aus dem größten Motiv also,
einem, das Musik zwänge zu verstummen“ (Adorno, Gesammelte
Schriften Bd. 16, Frankfurt/Main 1984, S. 284). An anderer Stelle:
„Kunst heißt nicht, Alternativen pointieren, sondern
durch nichts anderes als ihre Gestalt dem Weltlauf widerstehen,
der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt“
(Adorno, Noten zur Literatur, Frankfurt/Main 1989, S. 413). Ich
wiederhole: Beide, Adorno genauso wie Eisler, sind am Ende ihres
Lebens Verlierer, zu Verlierern degradiert und Opfer eines Kalten
Krieges.
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(Anzeige in Jungle World, 7. Jg. [12. März 2003], S. 26, Kleinanzeigenteil)
Apropos 1903: In diesem Jahr wird in Amerika der Teddy Bear eingeführt,
benannt nach Theodore Roosevelt.