[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 25
52. Jahrgang | Juni
Forum Musikpädagogik
Ein Leben für die Klavierpädagogik
Zum 25. Todestag der Klavierpädagogin und Pianistin Margit
Varró
Margit Varró kommt am 22. Oktober 1881 als Margit Picker
in der südungarischen Kleinstadt Barcs auf die Welt. Trotz
ihres Aufwachsens in der Provinz erhält sie dank ihrer Mutter
eine vielseitige Bildung und ein gutes und umfangreiches Wissen1.
Sie entwickelt für ihr späteres Leben eine humorvolle
Persönlichkeit2. So lange ihre Erinnerung zurückreicht,
spielt sie schon Klavier. Noch bevor sie lesen lernt, kann sie Noten
lesen und vierhändig spielen.
Quelle: Werbeblatt vom Simrock
Verlag zur zweiten Auflage von „Der lebendige Klavierunterricht
– seine Methodik und Psychologie“, Simrock,
Berlin-Leipzig, 1929, 311 S.
Mit zehn Jahren schicken ihre Eltern sie nach Österreich,
wo sie ihren ersten Klavierunterricht bei wechselnden Lehrern erhält,
den sie als pädagogisch katastrophal beschreibt.3 Sie zeichnet
sich durch schnelle Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit
und logisches Denken aus. Englisch und Deutsch spricht sie wie ihre
Muttersprache Ungarisch und lernt später noch Französisch
und Italienisch hinzu.4
1900 wird sie in Budapest in die dritte Vorbereitungsklasse für
die k.u.k. ungarische Musikakademie unter dem Liszt-Schüler
Árpád Szendy (1863-1922, Pianist, Komponist, Pädagoge,
lernte bei Liszt und Koeßler) aufgenommen und absolviert bei
ihm bis 1905 auch das Akademiestudium, unter anderem mit den Fächern
Klavier, Komposition und Orchestration.5 In den Jahren 1905-1907
erhält sie bei Kálmán Chován an der Königlichen
Ungarischen Musikakademie Unterricht.
1907 schließt sie als erste Preisträgerin des im gleichen
Jahr neu installierten Ernö-Fodor-Stipendiums der Volkmann-Stiftung
für Klavier und Klavierpädagogik mit besten Noten ab.
In diesen Jahren heiratet Margit Picker den drei Jahre älteren
Publizisten, freien Journalisten, Soziologen und Bibliographen Varró
István, der am 17. März 1878 geboren wurde.6 Seither
heißt sie Varró Margit, Varróné Margit
oder auch Varró-Picker Margit.
Um 1900 gibt es auch eine Reihe ungarischer Studenten an der Liszt-
Akademie Budapest, die uns sehr wohl bekannt sind. Zu diesen jungen
Musikern gehören, um nur einige zu nennen, Béla Bartók,
Zoltán Kodály, Ernö Dohnányi, Sándor
Reschofsky und Léo Weiner. Sie stehen am Anfang ihrer internationalen
Karriere als ausübende Künstler, Komponisten, Wissenschaftler
und Lehrer, die dann ihrerseits auch wieder exzellente Schüler
hervorbringen. Zeitweise bezeichnen sie sich als die Erben Liszts.
Nach dem Studium folgen für Margit Varró 1907-08 Lehrtätigkeit
an der Fodor-Musikschule und auch private Unterrichtstätigkeit.
Gleichzeitig tritt sie in den Jahren 1907-13 verstärkt in Konzerten
in Ungarn, Österreich und Deutschland auf und gibt Lehrerfortbildungskurse
an der Staatlichen Ungarischen Musikakademie, bis sie dann 1918-20
als erste Frau zur Dozentin an der staatlichen ungarischen Musikakademie
ernannt wird, die damals von Ernö Dohnányi als Direktor
und Zoltán Kodály als Vizedirektor geleitet wird.
Sie ist dort zunächst verantwortlich für die Lehrproben,
bevor sie dann auch die Leitung der Übungsschule übernimmt.
So sind Béla Bartók, Zoltán Kodály,
Ernó Dohnányi, Sándor Reschofsky, Léo
Weiner und Margit Varró dann auch für eine Zeit im Lehrkörper
der Franz Liszt-Akademie gemeinsam tätig.
Diese Zeit zeichnet professionelle Zusammenarbeit aus. Psychologische,
musikermedizinische und pädagogische Ansätze werden diskutiert,
ver-öffentlicht und im Unterricht angewandt. Sie führen
zu neuen ganzheitlichen pädagogischen Ansätzen unter dem
Einfluss von Sándor Kovács, gerade auch im psychologischen
Bereich. Während der ausführende Kün-stler Ernö
Dohnányi aus Deutschland ein neues nationales Curriculum
mitbringt, entwickeln Béla Bartók als Komponist, Zoltán
Kodály – der das Singen favorisiert – und Sándor
Reschofsky als Komponist und Pädagoge gemeinsam und auch jeder
für sich pädagogische Methoden und Lehrwerke für
den Instrumentalunterricht.
Schon die Fülle der Fachliteratur, die zu diesem Zeitpunkt
veröffentlicht wird, spiegelt die Aufbruchstimmung dieser Zeit.
Hier nur einige dieser Werke: Riemann, Hugo: „System der musikalischen
Rhythmik und Metrik“, Leipzig, 1903; Matthey, T.: „The
act of Touch” London 1909; Breithaupt, Rudolf Maria: „Die
natürliche Klaviertechnik“, Leipzig 1904; Caland, Elisabeth:
„Die Ausnützung der Kraftquellen im Klavierspiel“,
Stuttgart 1905; ...und später Loebenstein, Frieda: „Der
erste Klavierunterricht“, Berlin-Lichterfelde 1927 –
Werke, die zu jener Zeit im Gespräch sind, die diskutiert werden,…
– kennt sie Margit Varró viel-leicht auch?
Die ersten Veröffentlichungen
Politisch fällt in diese Zeit auch die kurzzeitige Ausrufung
der Räterepublik in Ungarn. Dohnányi und Kodály
versuchen in dieser Zeit, nur die besten Musiker ihres Faches an
die Hochschule zu berufen. Dohnányi wird nach der politischen
Restitution plötzlich fälschlicherweise beurlaubt, Kodály
tritt aus Protest zurück und 14 andere Professoren und Dozenten,
darunter auch Bartók, Varró und Weiner streiken. Dohnányi
und wenige andere erhalten ihre Stellen zurück, während
wiederum andere keine Anstellung mehr erhalten7.
Neben der Lehrtätigkeit, den Konzerten und einigen Rundfunkaufnahmen
beginnt Margit Varró auch zu veröffentlichen. Ihr erster
Artikel „Bach J.S.“8 erscheint im Jahrbuch der Fodor
Musikschule 1908. Es erscheinen in Folge hauptsächlich kürzere
Artikel zu verschiedenen Themen sowohl in Pester Lloyd, einer guten
deutschen Tageszeitung in Budapest, als auch Artikel in ungarischen
Tageszeitungen.
Gleichzeitig entwickelt Margit Varró ihre Methode aus der
praktischen Unterrichtstätigkeit heraus. Ihre systematischen
pädagogischen Untersuchungen und hier besonders auch das psychologische
Material dienen zu-nächst als Grundlage für ihr 1921 erschienenes
Buch „Zongoratanítás és zenei nevelés“9
(Klavierunterricht und Musikerziehung). 1926 erscheint dann in zwei
Folgen ein langer Artikel von Margit Varró „Grundlagen
des Musikunterrichts I und II“10 in der Allgemeinen Zeitung
für Musik, in dem die Autorin selbst sagt „Dieser Artikel
bietet eine kurze Übersicht über einige der wichtigsten
Grundsätze, die in dem 1921 in Budapest bei Rózsavölgyi
in ungarischer Sprache erschienenen Buche der Verfasserin: „Klavierunterricht
und musikalische Erziehung” niedergelegt sind. – Die
deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung.“11
In den folgenden Jahren übersetzt sie „Zongoratanitás
...“ selbst ins Deutsche, überarbeitet es und erweitert
es besonders im dritten, psychologischen Teil. So entsteht 1929
ihre wichtigste Veröffentlichung: „Der lebendige Klavierunterricht
– seine Methodik und Psychologie“12, die unter anderem
auch von Bartók, aber auch von anderen Zeitgenossen wie Rudolph
Maria Breithaupt, Erich Doflein, Wilhelm Gebhardt,13 um nur einige
zu nennen, als herausragendes Buch gewürdigt wird. Es soll
ihr für die Klavierpädagogik wichtigstes, aber auch für
jeden Instrumentalpädagogen nützliches Werk bleiben, in
dessen Vorwort von 1928 sie selbst das Wegweisende in diesem Buch
definiert als „… durch innige Verbindung des Musikalischen,
Technischen, und Psychologischen die Brücke zu schlagen von
den wohl erkannten Zielen des Klavierunterrichts in die pädagogische
Praxis. ...“14. Margit Varró arbeitet in ihrem Buch
Themen wie „Erziehung des musikalischen Sinnes“, „Methodik
des Anfängerunterrichts“, „Analyse von Spielstörungen“,
„Lampenfieber“, „Gruppenunterricht“, „Improvisation“,
„Kinderkompositionen“ und vieles mehr systematisch auf
und setzt sie gut verständlich und teil- weise mit Beispielen
in Praxisbezug.
Sie plädiert grundsätzlich dafür, der Klavierlehrer
möge ein – möglichst großes – pädagogisches
Basiswissen individuell auf den Schüler anwenden und ihm nicht
eine immer gleiche Methode überstülpen. Ihrer Zeit –
und vielleicht sogar so manchem heutigen Klavierpädagogen –
ist sie damit weit voraus. Auch heute noch besitzt sie mit ihren
wegweisenden Ausführungen hohe Aktualität.
Von Europa in die Staaten In diese Zeit fällt auch eine rege
Vortragstätigkeit in den Metropolen Europas, so zum Beispiel
referiert sie bei der Internationalen Konferenz für Musikerziehung
in Paris 1937 und schreibt viele Veröffentlichungen15 in unterschiedlichen
Sprachen, die bis heute zugänglich sind. 1938 wandert Margit
Varró nach Chicago, Illinois, USA aus, nicht zuletzt auch,
um be-ruflich mehr zu erreichen16. Dort setzt sie in den folgenden
zwanzig Jahren ihre intensive Vortrags- und Vorlesungstätigkeit
über verschiedene musikpädagogische, aber auch biographische
und musikgeschichtliche Themen fort. 1939 unterrichtet sie an der
Cummington School of Arts, Massachusetts, 1940-42 an der Sherwood
School of Music, Chicago, 1947-56 am Institute of Design of the
Illinois Institute of Technology, Chicago, 1950-58 am Chicago Musical
College of Roosevelt University und 1958-59 an der University of
Chicago College.17 Um ihren Mann nachholen zu können, braucht
sie im Übrigen den Nachweis einer festen Anstellung. István
Varró arbeitet in den USA als Buchbinder und als Koch, während
seine Frau Margit Varró neben den festen Tätigkeiten
bis ins hohe Alter unterrichtet – teilweise von acht bis zwanzig
Uhr. Sein gutes Cellospiel aus Ungarn kann er in den USA nicht mehr
pflegen18. Ihr Sohn Stephen Varró mit Familie kommt 1945
über Lateinamerika nach Chicago und geht später nach New
York. Dort besucht ihn die Mutter mit 82 Jahren für eine längere
Zeit, nachdem am 13. September 1963 der Vater in Chicago stirbt19.
In New York kann sie sich vor Einladungen und Telefonaten ihrer
ehemaligen Schüler kaum retten20. Auch im Alter hat sie es
noch immer sehr eilig und läuft viel. Noch mit 94 Jahren unterrichtet
sie in der eigenen Chicagoer Wohnung die privaten Schüler und
beteiligt sich aktiv am sozialen Leben. Der Plan, ihre Memoiren
zu schreiben, wird dann durch einen Sturz mit Hüftbruch verhindert.
Mit 95 verbringt sie ihr Lebensende im Altersheim, sitzt im Rollstuhl
und spielt nur wenig Klavier. Die „leeren Tage machen mir
zu schaffen“ und „ich lebe in der Gegenwart“ betont
sie. Für sie ist wichtig, dass “sie mit den Schülern
immer ehrlich umgegangen ist“. Sie freut sich, dass sie „so
privilegiert war, so viele junge Lehrer an
das Unterrichten heranführen zu dürfen“21. Laut
Altersheimauskunft steht sie mit vielen Schülern mit Briefen
und Tonbändern im Austausch und sie bleibt auch für die
Mitbewohner selber aktiv. Die letzten Jahre erblindet sie vollständig.
Margit Varró stirbt am 15. Mai 1978 im Alter von 97 Jahren
in Chicago, Illinois, USA. Noch heute wird Margit Varró von
Autoren zitiert, so zum Beispiel 2002 von Elgin Roth in „Klavierspiel
und Körperbewußtsein“ oder 1993 von Peter Heilbut
in “Klavier spielen“, um nur zwei Veröffentlichungen
von vielen aus den letzten Jahren anzuführen.
Auch Carl Adolf Martienssen erwähnt sie bereits 1930 in „Die
individuelle Klaviertechnik“ und 1954 in seinem „Schöpferischen
Klavierunterricht“, genauso wie Kurt Schubert 1946 in „Die
Technik des Klavierspiels“ und viele andere. Unzweifelhaft
folgen zahlreiche (auch bekannte) musikpädagogische Autoren
unserer Zeit dem bereits von ihr gebahnten Weg. Daher ist es nur
konsequent, dass „Der lebendige Klavierunterricht“,
der in der Vierten Auflage von 1958 noch erhältlich ist, auch
heute noch zur Grundlagenliteratur für die klaviermethodische
Ausbildung an Musikhochschulen, Konservatorien und Akademien zählt
– zu Recht!
Ruth-Iris Frey-Samlowski
1 Máthé Miklósné:
„Utószó: Varró Margit eletútja”
in: Veszprémi Lili: „Varró Margit, Tanulmányok,
löadások „Visszaem-lékezések”,
Zenemükiadó, Budapest 1980, p. 114 -123 .
2 G. Varró: „Emlékek Margitról”
in: Ábrahám Mariann „Varró Margit és
a XXI Század”, Zenetanárok Társasága
2000, p.153-158.
3 E. Thiel: „Interview” in: Glissando, Sherwood Music
School, Chicago 1940.
4 Máthé Miklósné: „Utószó:
Varró Margit elétutja” in: Veszprémi
Lili: „Varró Margit, Tanulmányok, Elöadások,
Visszaem-lékezések”, Zenemükiadó,
Budapest 1980, p. 114 -123 .
5 E.Thiel: „Interview” in: Glissando, Sherwood Music
School, Chicago 1940.
6 Ábrahám Mariann: „Eletrajzi adatok, bibliográfia”
in „Két Világrész Tanára, Varró
Margit“ Budapest 1991, p.583.
7 siehe Jahrbücher der Liszt Akademie von 1900 -1930.
8 Varró Margit: „Bach J.S.” in: Fodor Zeneiskola
évkönyve 1908, p. 5-14.
9 Varró Margit: „Zongoratanítás és
zenei nevelés”, Rozsavölgyi és Társa,
Budapest 1921, 248p.
10 Varró Margit: „Grundlagen des Musikunterrichts
I und II”, in: „Allgemeine Zeitung für Musik”,
53. Jhrg., No 24 p. 523ff und 25 p. 543ff, Berlin 1926.
11 a.a.O.
12 Varró Margit: „Der lebendige Klavierunterricht
– seine Methodik und Psychologie”, Simrock, Berlin-Leipzig
1929, 311p.
13 Werbeblatt vom Simrock Verlag zur 2. Auflage von „Der
lebendige Klavierunterricht – seine Methodik und Psychologie”,
Simrock, Berlin-Leipzig 1929, 311p.
14 Varró Margit: „Der lebendige Klavierunterricht
– seine Methodik und Psychologie”, Simrock, Berlin-Leipzig
1929, p. IV.
15 eine ausführliche Bibliographie ist in Helms, Schneider,
Weber: „Neues Lexikon der Musikpädagogik”, Personenteil,
Gustav Bosse Verlag, Kassel 2001 einzusehen.
16 Gabrielle Varró: „Emlékek Margitról”
in: Ábrahám Mariann: „Varró Margit
és a XXI Század”, Zenetanárok Társasága
2000, p.153-158.
17 „Autobiography“, Ms., Margit Varró, Chicago,
1976.
18 Gabrielle Varró: „Emlékek Margitról”
in: Ábrahám Mariann: „Varró Margit
és a XXI Század”, Zenetanárok Társasága
2000, p.153-158.
19 Ábrahám Mariann: „Eletrajzi adatok, bibliográfia”
in: „Két Világrész Tanára, Varró
Margit“ Budapest 1991, p.583. 20 “Ex-Pianoteacher,
95, still hears from pupils”, Chicago Sun -Times, Chicago,
16. Mai, 1977.
21 a.a.O.