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Ausgabe 2003/06
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nmz 2003/06 | Seite 23
52. Jahrgang | Juni
Hochschule

Dass einer des anderen Sprache verstehe

Rebecca Stewart und ihr Studiengang „Früher Ensemblegesang“ in Tilburg (NL)

Am Anfang der notierten Musik stand die Vokalität. Das wissen alle, die diese Musik ausführen, Sänger wie auch Instrumentalisten. Wirklich alle? Ist es jedem, der sich dieser Musik nähert, sich mit ihr wissenschaftlich und praktisch auseinandersetzt, bewusst, dass sie ausschließlich vom Atem bestimmt ist? Dass instrumentale und vokale Musiker in ein und demselben Luftstrom schwimmen, der sie zu einer Einheit werden lässt? Das Wissen darüber ist verbreitet, jedoch liegt in der Ausführung in unserer Zeit das Problem. Denn gerade solche Musiker, die sich mit historischer Aufführungspraxis intensiv beschäftigen und in frühere Zeiten eintauchen, sind in der Regel pure Individualisten – und müssen doch zum Erreichen jener homogenen musikalischen Einheit ihre Individualität vor der Tür lassen.

Und weil die Kenntnisse zwar verbreitet, jedoch bei den meisten Musikern die Praxis nicht auf ein wissenschaftliches und einfühlendes Fundament aufbauen kann, hat die Amerikanerin Rebecca Stewart am „Brabants Conservatorium in Tilburg“ (NL) 1990 einen zweijährigen separaten Studiengang für „Frühen Ensemblegesang“ eingerichtet, die „Schola Cantorum Brabantiae“.

Wie auf alten Darstellungen um eine Handschrift versammelt: Rebecca Stewart (rechts) und die Schola Cantorum Brabantiae. Foto: Suzanne van der Helm

Warum entstehen solche Ideen ausgerechnet in den Niederlanden? Die Erklärung ist einfach. Eben die Niederländer, speziell die Franko-Flamen, prägten genau jene Kernperiode der Musikgeschichte, um die es Rebecca Stewart in Tilburg in erster Linie geht. Rund 150 Jahre breiteten sie sich von etwa 1450 bis 1600 über ganz Europa aus, trugen die Früchte eines ausgereiften Ausbildungssystems an die Höfe Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Spaniens. In eigens dafür eingerichteten Schulen, die den großen Kathedralen angeschlossen waren, erlernten Chorknaben über Jahre und Jahrzehnte die Kunst des mehrstimmigen Singens. Sie schufen täglich aufs Neue jene polyphone Homogenität, der sich auch die späteren Instrumentalisten nicht entziehen konnten. Förmlich geschluckt wurden Streicher und Bläser von der Vokalität, formten sich selber zu Chören, die mit dem Chorgesang wetteifernd im Dialog stritten oder diesen im gleichen Melodiefluss klangverstärkend unterstützten. Es waren diese alten Traditionen, die Rebecca Stewart in die Niederlande zogen, und nach diesem Vorbild entstand in Tilburg ‚ihre‘ „Schola Cantorum Brabantiae“.

Zeitfaktor beachten

Schon sehr bald bemerkte auch die Leitung der Hochschule in Tilburg, was Rebecca Stewart von Anfang an klar war: Solch ein Studium ist in nur zwei Jahren nicht zu bewältigen. Ei- ne grundlegende Gesangsausbildung muss vor allem darin enthalten sein, denn zur Interpretation dieser Musik bedarf es eines ausgeprägten Körper- und Stimmgefühls. Ein vierjähriges Basisstudium wurde vorgeschaltet, das in jährlich vier bis fünf Themenkreisen in historischer Folge mit den Hauptstationen der vokalen Entwicklung vom Mittelalter über die Renaissance bis hin zu den Anfängen des Barock vertraut macht. Das fängt mit dem Besuch von Bibliotheken in Schlössern und Klöstern und dem Studium der Originalhandschriften an und setzt sich zur Erfahrung der or- iginalen Akustik mit praktischen Ü- bungen in den authentischen Räum- en fort. Schließlich werden im Gang durch die Jahrhunderte die bis dahin gesammelten Informationen mit viel Geduld in kleinen Lerneinheiten auf das Penibelste praktisch aufgearbeitet. Das braucht Zeit, viel Zeit. Vor allem, wenn nach den didaktischen Prinzipien einer Rebecca Stewart vorgegangen wird.

Aus Indien, wo sie als Musikethnologin in die Geheimnisse des Tablaspiels und indischen Gesangs eingeweiht wurde, brachte sie die Methode des imitierenden Lernens mit. Das Gefühl für den Gesang soll vermittelt werden, das Gefühl für die Musik, das Gefühl für die Zeit, in der sie entstand. Und dem Grunde nach sind die modalen Gesänge Indiens wie auch alle noch lebendigen modalen Traditionen des Nahen Ostens und Griechenlands denjenigen des mittelalterlichen Europas in vielen Grundsätzen ähnlicher, als man ad hoc denken mag. Der kontinuierliche Melodiefluss einigt sie wie auch die Modalität und das geistliche Element. Warum sollte man also nicht dieselben didaktischen Methoden anwenden?

Der Lehrer singt, der Schüler singt mit. Ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal. Dann erst wird der Schüler losgelassen, um den Kern der Musik im alleinigen Tun zu finden. Er soll sich als Mittler verstehen und nicht als individueller Interpret, soll gemeinsam mit den Ensemblemitgliedern die Musik aus sich selber sprechen lassen, auf die Melodie hören, wie sie den Mündern der anderen entströmt, und sich darin einfügen. Denn diese Momente, in denen die Musik für Menschen hörbar ist, sind eben jene Augenblicke, in denen Musiker das Element Musik aus dem Universum aufgreifen, den Mitmenschen vermitteln und danach wie-der in die Unendlichkeit entlassen. Nichts soll diesen Vermittlungsprozess behindern, kein störender Gedanke, kein überflüssiges Element, sie soll rein und wahrhaftig bleiben. Diesem Anspruch muss auch die Aussprache gehorchen. Und auch darin verbirgt sich wieder ein Problem. Es bedarf einer breiten Forschungsbasis gepaart mit musikhistorischem Wissen, um aus den französischen, italienischen und deutschen Dialektformen des Lateinischen die dem Werk adäquate Diktion zu wählen. Auch dieses Fundament wird in Tilburg vermittelt. Daher auch der chronologische Ansatz der Ausbildung. Nach den ersten Bibliotheksbesuchen werden die Studenten mit der Welt der Neumen, den ersten Notationszeichen, konfrontiert, suchen in den Zeichen nach Anzeichen für die Aussprache und setzen dies dann vokal um. Dasselbe gregorianische Stück wurde in der Schweiz anders notiert als in Italien oder Frankreich, folglich wurde auch das Latein darin jeweils anders ausgesprochen. Alle europäischen Sprachräume hatten so ihre eigene lateinische Aussprache. Davon wurde wiederum auch die Art des Singens geprägt. In Frankreich klang es leicht und schwebend, in Italien mit Körper und runder, in Deutschland sehr klar, rein und ohne Umwege.

So ein Crash-Anfang macht es den Studenten oft schwer. Sie werden ins kalte Wasser geworfen, sollen sofort aus alten Notationen mit getrennten Stimmen singen und doch miteinander verschmelzen. Viel Kraft, Ausdauer und Geduld fordert es von ihnen, aber diejenigen, die dabei bleiben, lernen auch bald, ihre eigene Individualität hinten an zu stellen und den Moment des Verstehens an sich herankommen zu lassen. Irgendwann erreicht dann die Ausbildung jenen Zeitpunkt in der Musikgeschichte, an dem die wachsenden Volkssprachen das Lateinische verdrängen. Vor allem Italienisch, Französisch und Englisch sang man viel. Also steht folgerichtig ab dem zweiten Jahr Sprachunterricht auf dem Plan. Musiktheoriekenntnisse werden immer parallel zu den historischen Einheiten vermittelt. Der Wechsel von den modalen Kirchentonarten zur Dur-Moll Tonalität spielt da eben-so eine Rolle wie auch die komplizierte Lehre vom Kontrapunkt, die Monteverdi um 1600 schließlich mit dem Zulassen der Dissonanzen grundlegend veränderte. Eines der schwierigsten Kapitel bleibt jedoch die Umsetzung der theoretischen Kenntnisse in die Praxis. Wie singt man zum Beispiel die Musik von Orlandus Lassus? Von Geburt Niederländer wohnte er in München und hatte seine Ausbildung in Italien absolviert. Für welche Aussprache, welche Klangfarbe soll man sich entscheiden? Nun, Kriterien gibt es wohl. Sie erschließen sich durch die Beantwortung der Fragen: Wo wohnte er zur Zeit der Komposition? Für wen war sie gedacht? Was war der Anlass? Welcher Dialekt dann letzt-endlich am besten passt, muss sich in jedem Fall singender Weise erschließen – und wird hoffentlich gefunden. Denn auch die historische Leiter ist nicht immer aussagekräftig. Für Rebecca Stewart ist der frühere Orlandus Lassus dem Mittelalter und seinen eigenen Traditionen wesentlich mehr entwachsen als der spätere Johann Sebastian Bach. Bach bleibt seinen sprachlichen Ursprüngen gegenüber loyal. Obwohl innovativ in der Harmonik, ist seine rhetorische Grundeinstellung konservativ und vom Mittelalter geprägt. Aus seiner Musik spricht stets das klare, sächsische Deutsch, während Orlandus Lassus als Entwurzelter italienisch, deutsch und lateinisch interpretierbar ist. So bleibt jede musikalische Umsetzung eine ständige Suche nach Wahrheiten, und Quellen. Und am Ende dieser vier- bis sechsjährigen Ausbildung sollen die Studen- ten alles alleine können: recherchiren, verstehen, wählen, singen und mit- einander musizieren.

„L’homme armé“
Vertieft wird der multiple Studiengang durch Sonderprojekte. Im Mittelpunkt stehen Gastdozenten wie etwa Emma Kirkby und Michael Schneider, historische Themenkreise oder Kooperationen mit anderen Ausbildungsstätten wie etwa der Frankfurter Hochschule und Kloster Michaelstein in Sachsen, wo Rebecca Stewart ständige Gastdozentin ist. Im Juli 2003 wird man sich im Workshop musikalischen Erscheinungen rund um die Melodie „L’hom-me armé“ widmen. Hintergründe werden erläutert und in die Praxis umgesetzt. Musikwissenschaftler und Instrumentalisten werden ihr Wissen dazu beisteuern.

Die Notwendigkeit eines solchen umfassenden Studiengangs wurde Rebecca Stewart bei der Gründung ihres Vokalensembles „Cappella Pratensis“ bewusst. Sie merkte, dass die Sänger noch nicht reif waren für die große Aufgabe, als Mittler der Musik zu fungieren. Später hatte sie mit „Cappella Pratensis“ eine Partnerschaft, in der jedoch die Ideen des Managements mit den Idealen der Musik unvereinbar wurden. Scheidung war kürzlich die Konsequenz. Der Studiengang „Schola Cantorum Brabantiae“ wurde ihr Kind, dass es groß zu ziehen gilt. Ihre Ansprüche an die Sänger und Instrumentalisten, an die Voraussetzungen, die sie mitbringen müssen, körperlicher und geistiger Art, scheinen hoch, fast zu hoch. Die Kollegen der Branche verstehen das, sie genießt eine sehr hohe Akzeptanz unter ihnen. Benjamin Bagby von „Sequentia“ ließ sich jüngst in Tilburg inspirieren, Michael Schneider möchte ihren vokalen Studiengang mit seinen Instrumentalstudenten von Frankfurt anreichern und Emma Kirkby zählt immer wieder auf ihren Rat. Ein ehemaliges Klarissenkloster möchte sie in Tilburg kaufen und zum Studienzentrum modaler Musiktraditionen, östlicher und westlicher, alter und neuer, machen. Rebecca Stewarts Ideen, ihre Philosophie und Überzeugung vom allumfassend in die Vorzeit eintauchenden Sänger, ziehen Kreise, breiten sich aus. Ihren Gedanken wird sich niemand, der sich ernsthaft mit der Musik des Mittelalters und der Renaissance auseinandersetzt, entziehen können. Dass die Ideen sich in die kommende Generation fortsetzen werden, dafür ist der Studiengang in Tilburg ein Garant.

Marieke Rabe

Information: Brabants Conservatorium, Zwijsenplein 1, Postbus 90907, NL-5000 GJ Tilburg, Internet: http://www.fontys.nl/bc, Schola Cantorum Brabantiae: http://www.wanadoo.nl/kedit/ScholaHometijdelijk.htm
Aufnahmeprüfungen: 2. und 25. Juni sowie 2. September 2003.

 

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