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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 25
52. Jahrgang | Juni
Jeunesses Musicales Deutschland
Chance für junge Kreativität
Carolyn Sittig inszeniert „Carmen“ in Weikersheim
„Carmen“ – die „spanische“ Oper par
excellence im Renaissance-Schlosshof zu Weikersheim. Was kann an
einem viel gespielten Werk neu faszinieren, und zwar im Sinne der
Jeunesses Musicales? Um es gleich zu sagen: immer und immer wieder
die kreative Kraft junger Talente. Carolyn Sittig ist so ein Glücksfall.
Sie studierte Musiktheaterregie in Hamburg bei Götz Friedrich,
inszenierte nach Assistenzen bei Harry Kupfer, John Dew und Jean-Pierre
Ponnelle unter anderem Salieris „Prima la Musica“ in
Dresden, den „Freischütz“ bei den Schlossfestspielen
Zwingenberg und Rossinis „Barbier von Sevilla“ in Bremen.
Sie ist Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude. Weikersheim
ist Herausforderung und Chance zugleich, frei von den Zwängen
eines Hauses mit begeisterten, kongenialen jungen Kolleginnen und
Kollegen einen großen Opernstoff neu zu beleuchten.
Oper im Schloss –
einen spannungsreichen Akzent vor der Renaissance-Kulisse
im Weikersheimer Schlosshof setzt das Bühnenbild zu
„Carmen“. Die kreisrunde Bühne symbolisiert
die „Arena“ der Handlung ebenso wie die Eingegrenztheit
des emotionalen Innenbezirks, aus dem ein zerbrochener Steg
die Verbindung zur Außenwelt herstellt. Foto: Regina
Rösing
Überzeitlich und universell wird ihre Weikersheimer „Carmen“,
historische wie heutige Elemente in sich vereinend. Spanien ist
überall, ist nur eine besonders luzide Folie für das ewige
und ewig neue Thema Liebe in all seinen Facetten und Extremen bis
hin zu den Grenzen von Leben und Tod. Ihre „Carmen“
könnte eher „Don José“ heißen, denn
an dieser Figur werden alle Beziehungen reflektiert. Dies eröffnet
völlig neue Perspektiven, auch auf die Nebengestalten der Oper.
Wenn Micaela in der Handlung nie wirklich auf Carmen trifft, ist
sie dann die Nebenbuhlerin – oder eine andere Idealprojektion
Don Josés, eine andere Form der Liebe? Dennoch haben die
auftretenden Gestalten ihre eigene Realität, ihr eigenes Tun
und Wollen, was eine zusätzliche Spannungsebene gegen die Idealprojektionen
des Don José schafft. Auch dem Chor fällt in Sit- tigs
Auffassung eine neue Rolle zu: Fern lediglich simpler Illustration
von Genreszenen wird er durch originäre Funktionen der attischen
Tragödie aufgewertet, kommentiert die Handlung, schärft
das Profil einzelner Charaktere. Auch das komische Element kommt
in den Figuren des Dancairo und des Remendado zu seinem Recht. Sittigs
Inszenierung strebt auf den Stierkampf als Höhepunkt und Schlüsselszene
der Dramaturgie zu. In ihm versinnlicht sich die Dialektik von Rausch,
Freude, Sieg, Neubeginn und Tod, die Katastrophe als opulent ausgestattete
Symbolik für die Themen der Handlung. So wird auch der Zuschauer
zu seinem Recht kommen, denn die in die Inszenierung einkomponierte
Rezeptiongeschichte des Werkes erlaubt die von Regina Rösing
gestalteten Kostümwechsel verschiedener Epochen bis hin zur
vielsagenden Erfüllung herkömmlicher Carmen-Klischees.
Das klar, beinahe reduktionistisch konzipierte Bühnenbild von
Sonja Welp behauptet sich grandios vor der erhabenen Kulisse der
Weikersheimer Schlossfassaden, zwingt den Blick in eine großartige
Landschaft mit Räumen für Realität und Idealwelt,
zeigt „Arena“ ebenso wie „Bruch“ und „Reflexion“,
weist den Charakteren und der Masse des Chores identifizierbare
Positionen zu und bietet selbst genügend Möglichkeiten
der Verwandlung. Für sommerliche Festivalbesucher lohnt sich
also Ende Juli der Weg nach Weikersheim – auch Bayreuth- oder
Bregenzreisende finden hier das Besondere: Junge, kreative Oper
auf internationalem Qualitätsniveau unter Gesamtleitung von
Yakov Kreizberg.