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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 1
52. Jahrgang | Juni
Leitartikel
Wir Winsler
Gerade leitartikelte Altkanzler Helmut Schmidt in seiner „Zeit“:
„Wollen wir jetzt auch Weltmeister im Jammern werden? Wieder
erleben wir einen schwarzmalerischen Herdenjournalismus in Deutschland.“
Grunz, muh und mäh, wir elendigen Schweinspublizisten, wir
ochsenschlappen Schafsköpfe bilden die glitschige Spitze des
bundesrepublikanischen Jammerlappen-Eisberges. Auch unser altes
neues Blatt ist wieder voll von Kultur-Geflenne. Wir bewimmern Musikschul-Schließungen,
Orches- ter-Verstümmelungen, Theater-Abriss, fluchen grob über
strunzdumme Oberbürgermeister, Dünnbrett-Ministeriale
und hirnherzlose Musik-Manager. Was bringt’s? Wenig. Denn
wir befinden uns – leider nicht ganz unverschuldet –
am Ende einer gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfungskette,
deren Zentral-Nervensystem offensichtlich nur noch vom Ganglion
der so genannten wirtschaftlichen Vernunft gesteuert wird.
Mit entsprechenden Ergebnissen. Es ist an unseren elektronischen
Stammtischen die große Zeit der ökonomischen Rat-Schläger,
Wirtschafts-Spekulatoren und Vernunft-Politiker angebrochen. Börse,
Bank und Arbeitsmarkt bilden den natürlichen Horizont solcher
Runden. Täglich, erschöpfend, abendfüllend. Ein ganzes
Land auf der Suche nach dem verlorenen Euro: Im Benz, unterm Perser,
auf dem Luxemburger Konto. Da bleibt für die „weichen“
Faktoren unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens selbstredend
keine Zeit: Moral, Werte, Bildung, Kunst, Kultur – Themen
für welkende Bundespräsidenten und profilierungsbedürftige
Partei-Quotenfrauen. Weiberversteher-Gewäsch, Schattenparker-Gelaber.
Wir waschbrettbauch-gestählten Realisten zeigen jetzt mal,
wofür wir trainiert haben: Wir schnallen den Gürtel enger,
vor allem den von Rentnern und Arbeitslosen. Wir sparen zehn Prozent
en gros bei Subventionen (da müssen wir nicht lange nachdenken)
und rigoros bei den so genannten freiwilligen Leistungen, die nicht
umsonst so heißen. Außerdem starten wir ein paar Aufklärungskampagnen
– Geiz ist geil, Leistung lustig, Steuerehrlichkeit herrlich.
Vor allem lassen wir einen Ruck durch uns gehen, rücken enger
zusammen (mit Mundschutz, wegen SARS) und bereiten uns auf den nächsten
Einsatz gegen einen Schurkenstaat vor. Der Wiederaufbau bringt jede
Menge Kohle, glückliches Polen. Vor allem aber kämpfen
wir den inneren Schweinhund nieder. Positiv siegt. Jede Form von
Klage oder Kritik wird mit Arbeitslager geahndet. Jammernde Journalisten
werden in Kabul zwangsakkreditiert, damit sie einen echten Grund
haben. Packen wir’s an.
P.S.: Wer in der „Agenda 2010“ irgendeine kulturspezifische
Aussage findet, wird um Mitteilung gebeten. Die ersten drei Einsender
erhalten zum Dank einen kaputten Taschenrechner oder – wahlweise
– eine Helmut-Schmidt-Biographie.