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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 44
52. Jahrgang | Juni
Nachschlag
Schlitz im Hintern
Bei der Siemens Preisverleihung sprach der vor zwei Jahren ausgezeichnete
Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann die Laudatio über den
neuen Preisträger Wolfgang Rihm. Er verteidigte, was des Musikwissenschaftlers
Elexier scheinbar für immer ist: den großen Komponisten
und seine in die Ferne wirkenden Werke. Daran saugt er sich fest,
forscht und gründelt und findet Sachverhalte, die auf den Komponisten,
so er noch lebt, selbst wie eine Offenbarung aus alchemistischer
Gedankenküche wirken (was den toten Komponisten angeforscht
wird, möchte man sich nicht ausmalen). Ein Kreislauf von Schaffen
und Forschen?
Brinkmann bewerkstelligte das mit der Lockerheit eines mobileartig
bewegten Vortrags (er wechselte immer die Sprechpulte), wohl mit
der Absicht, über Bewegung Bewegtheit zu erzeugen. Zugleich
verriet sich hierin eine innere Unruhe, die sich auf der Frage gründet,
was einmal geschieht, wenn die Großkomponisten aussterben.
Rihm hatte das ja einmal im schöpferischen Selbstzweifel angedroht
und an die Perspektiven Steuerberater, Bauchtänzer oder gar,
wenn es ganz schlimm kommt, Musikwissenschaftler gedacht. Nein,
riet da Brinkman, schon gar nicht das letztere. Der Komponist setze
sich dem leeren Blatt aus, um es schließlich doch zu füllen.
Der Musikwissenschaftler aber hinterlasse auch nach getaner Arbeit
nicht allzu selten ein leeres Blatt (selbst wenn Worte darauf stehen).
Wohl wahr. Es war ein gedankenreicher Vortrag voller schöner
Erinnerungen, launiger Bemerkungen und keck ins Innere leuchtende
Zitate. Vielleicht nahm man gerade deshalb das Dilemma heutiger
Musikwissenschaft so drastisch wahr. Es gibt einen Spruch, sehr
originell ist er zugegebenermaßen nicht, aber er wird heute
laufend dringlicher: Musikwissenschaft ist eine Wissenschaft, die
Musikwissen schafft. Musikwissen vermag aber in solchen Kreisläufen
mit fraktal sich verkleinernden Beobachtungen immer weniger geschaffen
werden. Die Musikwissenschaft ist in ihrer ursprünglichen Definition
weitgehend am Ende. Sie läuft sich tot in ihren geschichtlichen
Schürfprozessen, die längst nicht mehr auf ergiebige Ressourcen
stoßen. Die Klosterbibliotheken sind ausgeweidet, dem Satz
der Niederländer können nur Spitzfindigkeiten neue Aspekte
(von Dimensionen mag man gar nicht sprechen) abringen. Dennoch tut
man so, als mache man Business as usual. Dazu gehört auch das
Beschwören des Großkomponisten oder das Beschwören
von schöpferischen Musikern, möglichst Großkomponisten
zu werden, auch wenn diese ganz anderes im Sinn haben. Denn so erhält
man den Großkreislauf der rückgekoppelten Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme.
Dabei brauchen wir Musikwissen (und seine Wissenschaft), um den
fortlaufenden Tendenzen musikalischer Verrohung stichhaltig begegnen
zu können. Aber es muss eine sein, die sich nach vorne öffnet,
nicht eine, die im Hintern noch einen Schlitz entdeckt, den sie
durchleuchtet. Die Angst vor einem endgültigen Verschluss (sprich:
die Abdankung der Großwerke) ist aus dieser unschönen
Warte freilich durchaus verständlich.