[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 37
52. Jahrgang | Juni
Jazz, Rock, Pop
Jazz ist nur ein Referenzpunkt neben vielen
George Lewis und das ICI ensemble munich
Die für den Nachmittag angesetzte Probe kann getrost ausfallen.
„Mannomann“, stöhnt George Lewis mit einem Kopfschütteln,
das Bewunderung ausdrücken soll, während sich die Mitglieder
des ICI ensembles munich in ihrer wohlverdienten Pause bei Kaffee
und Kuchen erholen.
„Wir kommen wesentlich schneller voran, als ich es mir hätte
träumen lassen“, sagt der Amerikaner und schnalzt geräuschvoll
mit der Zunge. „Das hätte ich nicht gedacht, dass ich
hier ein solches Niveau antreffen würde.“ Auf Einladung
des Kulturreferats kam der Musiker Ende April für etwas mehr
als zwei Wochen nach München, um mit dem ICI ensemble fünf
seiner Kompositionen einzustudieren – vier ältere Stücke
und eines, das er speziell für die Einheimischen auf Partitur
gebannt hat.
Mit George Lewis hat sich das Kulturreferat ein Schwergewicht geangelt.
Denn der 50-Jährige mit der schillernden Vita gehört zu
den virtuosesten Posaunisten, die die Musik seit den 70er-Jahren
hervorgebracht hat. Er schreibt wissenschaftliche Beiträge
und Bücher (derzeit sitzt er an einem Wälzer über
die Chicagoer AACM) und ist seit Jahren an der Universiy of California
in San Diego Professor für „Critical Studies/Experimental
Practises“ im Bereich Musik. Für Aufsehen sorgte er auch
mit audiovisuellen Installationen oder als Entwickler von Computer-Programmen,
die etwa selbständig lernen oder reagieren. Gerade schreibt
er ein Werk für Orchester und virtuelles Piano – das
Piano ist ein Computerprogramm, das mit dem realen Ensemble improvisiert.
„Ich war nie in München und hatte keine Ahnung, dass
hier eine so lebendige Szene existiert“, setzt Lewis sein
Lob für die hiesige Improvisatoren- und Komponisten-Szene,
die sich im ICI ensemble konzentriert hat, fort. „Jeder in
diesem Orchester profitiert von verschiedenen Erfahrungen und Backgrounds.
Meine Musik hat diverse Ursprünge und ist nicht allein in einem
Genre angesiedelt. Ich muss mit Musikern arbeiten, die Musik in
ihrer ganzen Vielfalt lieben und keinen Stempel mit einem bestimmten
Motto auf der Stirn tragen. Sie haben alle eine Sensibilität
für hybride Formen entwickelt. Diese Musiker hier spielen großartig,
haben keine Berührungsängste, keine Schwierigkeit mit
komplexester Notation und sind hervorragende Improvisatoren.“
1998 wurde das ICI ensemble nach einem Pilotprojekt mit dem Komponisten
Vinko Globokar zur festen Einrichtung. Seither haben die Münchner
mit dem Engländer Barry Guy oder dem Italiener Giancarlo Schiaffini
gearbeitet und Kompositionen aus den eigenen Reihen aufgeführt,
im Jahre 2002 etwa solche des Posaunisten Christofer Varner oder
des Trompeters Franz-David Baumann. In George Lewis’ Kompositionen,
die der Tonsetzer übrigens mit fulminantem Körpereinsatz
dirigierte, bekam es das Orchester mit Werken zu tun, die von starken
Kontrasten leben. Lewis spielt mit Konventionen, die er gegen Abstraktionen
setzt, bricht satte Tutti-Stellen immer wieder für unbegleitete
Soli auf, stellt minimalistische Motive gegen weitschweifende Bögen,
düpiert die Ideale der Avantgarde durch Zitate aus der Jazzgeschichte.
„Ich verbringe keine Zeit damit, die Jazz-Tradition zu rekreieren.
Sie ist nur ein Referenzpunkt für mich neben vielen. Meine
Musik ist das Resultat meiner Erfahrungen, Begegnungen, Reisen.“
Nach der Probenzeit gaben Lewis und das ICI ensemble munich zunächst
Konzerte in Ulrichsberg und im schottischen Glasgow. Anfang Mai
splittete Lewis das Orchester dann in Segmente auf, um in der Echtzeithalle
im Einstein zu improvisieren. Das erarbeitete Kompositions-Programm
fand dann vier Tage später im Carl-Orff-Saal seine Aufführung.
Zum ICI ensemble stießen die amerikanischen Gäste Douglas
Ewart (Reeds), den Lewis noch aus seiner AACM-Zeit kennt, sowie
Niki Mitchell (Flöte), Mary Oliver (Viola) und ein ehemaliger
Wahl-Münchner, Leonard Jones (Bass). Außerdem führte
Lewis mit der Gruppe 48nord das Stück „The Cow’s
Stomach“ auf, das das Thema Müllbeseitung umsetzte. Zu
programmierten und gesampelten Klängen wurde ein Film aus einem
Abwasserwerk in San Diego gezeigt. Müll wird durch Musik erst
schön.