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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 37
52. Jahrgang | Juni
Jazz, Rock, Pop
Töne aus der virtuellen Matrix-Welt
Neue Alben von Massive Attack und Beth Gibbons: Der Bristol-Sound
wird historisch
Viele Pop-Musikkritiker halten „Dummy“, das 1994er-Album
der Gruppe „Portishead“, für das wichtigste Sound-Ereignis
der 90er-Jahre. Weitab in der englischen Provinz, in Bristol, entstand
am Ende der Thatcher-Ära fernab von Brit-Pop, Grunge, HipHop
und NuMetal eine Klangwelt, die bald weltweit zum dominierenden
Hintergrundgeräusch des progressiven Alltags und der avancierten
Medien wurde.
Man könnte sagen, dass der Bristol-Sound die Ästhetiken
der Post-Moderne, die damals en vogue war, vollkommen resümierte.
Und das wunderbarste dabei war: Das Déjà-vu-Erlebnis,
das sich beim Hören immer wieder einstellte, verdrängte
nie den Eindruck des Neuen, Unerhörten. Der Bristol-Sound war
in mehrfacher Hinsicht ein Paradox: eine synthetische Zukunfts-Musik,
die sich scheinbar nur aus den Highlights der Erinnerung zusammensetzte;
ein Geräusch-Ambiente wie vom Design-Tisch der Computer- und
Internet-Generation, das aber stets warm, „persönlich“,
auch authentisch wirkte; Töne aus der Matrix-Welt, mit denen
sich Geschichten und Gefühle transportieren ließen, kühl
und doch pathetisch.
Es gab viele Interpreten, die man unter dem Logo „Bristol-Sound“
oder dem Kampfbegriff „TripHop“ zusammenfasste, aber
letztlich zählten nur Massive Attack, Portishead und Tricky:
Alle Drei erkannten das Potenzial, das in einem raffinierten Easy
listening à la Burt Bacharach steckte, sie hatten ein Faible
für „spacige“ Filmmusiken, für zerrissene
Sound-Architekturen und komplexe Montagen. Aber im Bristol-Kosmos
klang alles smooth und soft, selbst das Dissonante steigerte nur
die Empfindung gesteigerter Harmonie und New Electronica wurde zum
elegischen Blueprint einer sehr suggestiven, auch sehr wehmütigen
Renaissance des Melodiösen in der Pop-Musik. In Bristol, so
schien es, wurde das Paradox zum Rezept für Erfolg.
Der hatte freilich wie immer seinen Preis. TripHop wurde zum kleinsten
gemeinsamen Nenner in Fernseh-Features aller Art, die schöne
Erfindung schien im Welt-Medien-Rauschen unterzugehen. „Tricky“,
der nach seinem wunderbaren „Maxinquaye“ rascher als
die anderen produzierte und immer beliebigere Alben auf einen gesättigten
Markt warf, schien nur die allgemeinere Diagnose besonders drastisch
zu belegen, dass TripHop kein Sub-Genre mit Potential, sondern eher
eine Art bequemer Strickanleitung für Kunsthandwerk aus einer
virtuellen Matrix-Welt war.
Großzügiger formuliert: Der „Bristol-Sound“
schien historisch geworden. Aber genau die Distanz zum (nur) Modischen,
die sich dadurch herstellte, ermöglichte in diesem Frühjahr
einen doppelten Triumph: TripHop erwies sich als Virus – „from
outer space“, wie William S. Burroughs gesagt hätte,
nur dass sich dieser Weltraum gut romantisch als das Innerste der
Menschenseele und der Maschinenlogik erweist. Er ist fähig
zur unendlichen Variation und zur Resistenz. Wenn das „Portishead“-Schema
(vielleicht) ausgereizt ist, und zwar durch maßlosen Erfolg,
dann muss man eben zu anderen, noch unmöglicheren Verbindungen
greifen.
Beth Gibbons verbindet sich mit einem „Talk Talk“-Mastermind
– und wer die Lobeshymnen der Feuilletons liest und/oder jung
ist, würde nie ahnen, dass diese Band in den „stylishen“
80er-Jahren bei mode- und geschmacksbewussten Jungerwachsenen höchstens
in der Rubrik peinlichstes Lieblingsstück für eine Art
Intimitäts-Furore sorgte. Jetzt ist Beth Gibbons im „Talk
Talk“-Mood cool auf die zeitenthobenste, haltbarste Art: als
klassische Geschichtenerzählerin, die von Wohl und Wehe des
Subjekts erzählt; in Zeiten, die ihm nicht unbedingt gewogen
sind.
Massive Attack waren immer schon beides: radikal, sofern es um
die eigenen Erfindungen ging, und sehr, sehr behutsam, wenn der
drohende Clash mit einer noch so diffusen Korrektheit auf der Tagesordnung
stand. Das Schicksal dieser Band sind die Golfkriege: Beim ersten
mit westlicher Beteiligung, 1991, gaben sie prompt den Bestandteil
ihres Namens preis, der aggressive Missverständnisse erlaubt
hätte, und auch jetzt, beim halben Comeback mit „100th
Window“, kam ihnen die Weltgeschichte, die immer, wenn sie
sich meldet, Schädelstätte ist, ein wenig in die Quere.
Nicht kommerziell freilich! In den Charts schoss der TripHop-Relaunch,
der Bristol endgültig zum Teil der Matrix-Welt macht, sofort
von Null auf Eins. Zu hören sind massive Attacken auf überkommene
Sicherheiten; und es liegt wie beim Film am Rezipienten, wie platt
oder komplex er sie dekodiert. „100th Window“ ist Grenz-Sound,
das „Borderliner“-Sein wird in den mäandernden
Songs mehrfach thematisch. Im Bristol-Sound anno 2003 geht es sehr
„massiv“ um Daseins-Design, die Sozial-Kritik bekommt
oft eine esoterische Wendung, die Selbst-Definition von Subjekten
in einer Welt, die Sicherheiten nicht mehr zu kennen scheint, rückt
in den Vordergrund. Die Seele rutscht in den Klang, der sie permanent
neu definiert und erzeugt.
Helmut Hein
Aktuelle Alben
Massive Attack: 100th Window, Virgin
Beth Gibbons: Out of Season, Go! Beat