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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 18
52. Jahrgang | Juni
Repertoire
Joseph Martin Kraus
Originalität überwindet Konventionen im Einzelnen. Insofern
ist die klassische Tonsprache nicht die Summe von Dialekten, sondern
eine grammatische Orientierung, die persönlichen Stil erlaubt.
Wahrscheinlich hat der deutsche Komponist Joseph Martin Kraus (1756–1792),
ein Zeitgenosse und Bekannter Wolfgang Amadeus Mozarts, nicht so
abstrakt gedacht. Aber er hat Musik geschrieben, mit der er die
Füllung klassischer Formen eigensinnig zusammensetzt. Seine
Symphonien sind eine Folge solcher Experimente in den Formen. So
beginnen zwei davon (cis-Moll und c-Moll) mit einem langsamen Satz,
jeweils mit lyrischen Kantilenen. Die cis-moll Symphonie gar mit
hochgespannten Wechseln zu Allegrosprüngen, wobei der Generalbass
wie ein Raddampfer das Orchester vorantreibt. In der C-Dur Symphonie
„funèbre“ sind dissonante Klagen zu hören,
wodurch die betrübte Stimmung noch verstärkt wird. Diese
Symphonien sind Dramen ohne Darsteller, entwerfen Szenen aus Konflikten
und Dialogen. Solche zudem noch raffiniert orchestrierten Klänge
haben eine seltsame Modernität, als ob J. M. Kraus visionär
das nächste Jahrhundert vorausgeahnt hätte.
Vor allem hat er gern gegen gewohnte Erwartungen komponiert, etwa
in der Symphonie in F-Dur, wo er Phrasen verlängert oder verkürzt,
sodass die Syntax in den Formen transzendiert wird. Andererseits
hatte er ein ausgeprägtes Sensorium für die Melodik, die
oft aus Volksliedern entlehnt sein könnte. Humor in versteckter
Ironie der Symphonie Es-Dur und pure Energie in den schnellen Tempi
der Finalsätze sind weitere Merkmale seines Stils, den das
Swedish Chamber Orchester in wundervollen, nuancierten Interpretationen
aufgenommen hat.
Seine Karriere als Komponist machte J. M. Kraus allerdings nicht
in Deutschland, sondern in Schweden, wo er 1787 zum Hofkapellmeister
ernannt wurde. Seine überragende Begabung (er wird oft mit
Mozart verglichen) ist also ex patria und fern der damaligen Musikhauptstadt
Wien anerkannt worden. Trotzdem hat ihn wohl Heimweh geplagt, denn
in seinen Streichquartetten erscheinen sehr persönliche Gefühlslagen.
Hier hat er noch ausgiebiger experimentiert, so im Allegro des D-Dur
Quartetts mit asymmetrischer Stimmführung oder mit Echowirkungen
im D-Dur Quartett. Eine fahle Elegie und merkwürdig gebrochene
Melodik im f-moll Quartett weist deutlich auf Melancholie hin. Vom
Joseph Martin Kraus-Quartett liegt eine erste Sammlung dieser manchmal
grübelnden, manchmal satirischen Werke in exzellenten Einspielungen
vor.
Einige Klavierwerke hat Alexandra Oehler neu entdeckt. Die beiden
Sonaten zeigen, dass J. M. Kraus sich auch in diesem Genre Freiheiten
nahm, so bei der dynamischen Gestaltung. Anmut der Klangbewegungen
und lyrische Intensität kennzeichnen diese empfindsame Musik.
Joseph Martin Kraus, der deutsche Emigrant in Schweden, war in gewisser
Hinsicht ein Rebell, zumindest ein Querkopf. Auf jeden Fall ein
Querkopf bester Originalität, er gehört ins Zentrum der
Aufmerksamkeit bei der Rezeption klassischer Musik.
Hans-Dieter Grünefeld
Diskografie
Joseph Martin Kraus: Symphonies I/Olympic Overture
Naxos 8.553734 Symphonies II/Sinfonietta buffa
Naxos 8.554472 Symphonies III
Naxos 8.554777 Symphonies IV
Naxos 8.555305
Alle Aufnahmen mit dem Swedish Chamber Orchestra, Leitung: Petter
Sundkvist
Klavierwerke
Alexandra Oehler, Klavier
Ars Musici AM 1326-2
Streichquartette I
Joseph Martin Kraus-Quartett
Cavalli CCD 224