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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 21
52. Jahrgang | Juni
Bücher
Pionier Peter, der Wolf und andere Märchen
Friedbert Streller legt eine schonungslos genaue Studie über
Sergej Prokofjew vor
Friedbert Streller: Sergej Prokofjew und seine Zeit,
Laaber-Verlag, Laaber 2003, 365 S., Notenbeispiele und Bildtafeln,
€ 36,-, ISBN 3-89007-554-1
Das Werk von Komponisten wie Scho-stakowitsch oder Prokofjew pflegt
der westlichen Mit- und Nachwelt Rätsel aufzugeben, die in
der östlichen aus eigenen Erfahrungen mit wacher- em Verständnis
interpretiert werden konnten. Etwa zum Verhältnis des russischen
Künstlers zur Obrigkeit, der man Treue schulde bei Wahrung
des eigenen Standpunkts und Anspruch: dies entspräche altererbten
russischen Bildungstraditionen. Wie diese Rechnung unter einer Diktatur
aufgeht, bleibt eine zweite, immer nur im Einzelfall zu beantwortende
Frage. Noch will die Welt ja nichts davon wissen, dass „Peter
und der Wolf“ ein in der Schulmusik in Ost und West fortbestehendes
Denkmal stalinistischer Utopie darstellt, denn in Prokofjews eigenem
handschriftlichen Märchenentwurf lautet der vollständige
Titel „Wie Pionier Peter den Wolf fing“ und es ist dort
die Rede davon, dass „Pioniere sich nicht vor dem Wolf fürchten“,
so wie Siegfried nicht vor dem Drachen (dem dann auch ein Waldvögelein
den Weg weist). Überhaupt hatte Prokofjew mit Märchen
zeitlebens viel im Sinn. Schon sein Lehrer Alexander Glasunow hatte
ihn nach seiner Jugendkomposition „hässliches junges
Entlein“ genannt und einer seiner schönsten Auswege in
der Spätzeit massivster Unterdrückung bildete das Märchen
„Die steinerne Blume“ als Sujet eines wunderschönen
Farbfilms. Zeitlebens fiel er seiner erfahreneren Mitwelt mit seinem
naiven Glauben an die Sowjetmacht auf die Nerven, der ihn ja auch
in den 30er-Jahren schlimmster Verfolgungen aus dem Westen blindgläubig
in die Heimat zurückkehren ließ. Es bekam ihm nicht gut,
sein Glaube schützte ihn nicht vor Zurücksetzungen und
Verurteilungen bei den ZK-Beschlüssen des Jahres 1948, denen
er wieder nur seine gläubige Harmlosigkeit entgegenzusetzen
wusste, dabei aber fast verhungerte. Weggefährten erlitten
Schlimmeres: Natalia Saz, Leiterin des Moskauer Kindertheaters,
die den „Pionier Peter“ beauftragt und uraufgeführt
hatte, musste für Jahre ins Lager, weil sie mit dem hingerichteten
„Volksfeind“ Marschall Tuchatschewski verheiratet gewesen
war.
So konnte ihr Name in Prokofjews Autobiografie 1941 nicht mehr
auftauchen. Seine eigene geschiedene erste Ehefrau Lina kam ins
Lager, weil sie sich – gebürtige Spanierin – vor
Auslandskontakten nicht so ängstlich zurückgezogen hatte,
wie Prokofjew selbst dies für sich geraten erscheinen ließ;
dabei wurden bei NKWD-Razzien in seiner früheren Wohnung unersetzliche
musikalische Dokumente zerstört. Dies alles in schonungsloser
Genauigkeit ausführlich darzulegen, zeigt die hohe Kompetenz
Friedbert Strellers, der sich als Autor von Jugend an mit Prokofjew
beschäftigte: Schon 1972 waren die frühen Sinfonien Prokofjews
sein Dissertationsthema gewesen.
Da sammelt sich in Jahrzehnten einiges an Detailinformationen
an, aus denen er systematisch Lebenslauf, Werkgeschichte und musikalische
wie politische Umwelt des Komponisten – immer in wechselseitiger
Symbiose – verfolgt, ohne sich irreführend auf das eine
zu konzentrieren und das andere beiseite zu lassen (wie das im Sowjetbereich
hinsichtlich der unerwünschten Avantgarde der 20er-Jahre zum
Beispiel die Auflage war). Prokofjews musikalische wie politische
Utopien werden verfolgt und ohne Bewertung, distanziert aufgezeichnet.
Man kann verfolgen, wie diese Vorstellungen ausgesehen haben und
wie sie sich in musikalische Gestalt umsetzten (im Abstand eines
halben Jahrhunderts eventuell schon fassungslos, aber so sah Osteuropas
politische „Geistesgeschichte“ nun einmal aus!).
Von „gesunder Musik“, wie das in den 50er-Jahren in
Bezug auf Prokofjew und seine Zeitgenossen angeraten war, um ihr
Werk gegen übliche Verurteilung zu verteidigen (Swjatoslaw
Richter, Heinrich Neuhaus mussten sich noch so äußern!),
ist hier glück-licherweise nicht mehr ernsthaft die Rede. Aber
dem Sinn der von Prokofjew seit den frühen 30er-Jahren –
also noch im Westen – verfolgten Idee der „neuen Einfachheit“
(er hat den Begriff geprägt!) auf die Spur zu kommen, versucht
Streller schon und nicht ohne Berechtigung, da dieses Thema bis
zum Jahrhundertende die Gemüter bewegte. Oder wäre neue
Einfachheit gleichbedeutend mit neuer Harmlosigkeit? Über den
meist eingespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts ist dies ein
erfreulich informatives Buch.