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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 20
52. Jahrgang | Juni
Rezensionen
Packende dramatische Energien
Wagners „Ring des Nibelungen“ zum zweiten Mal auf
DVD erschienen
Mythos der Moderne, Kapitalismuskritik, Deutschtümelei –
schier unerschöpflich sind die Sichtweisen auf Wagners „Ring“.
Die feurigsten Debatten entzündeten sich an der Frage nach
dem eigentlichen Handlungsträger. Scharen von Kommentatoren
brachten spärliches Licht ins Dunkel möglicher Interpretationen.
Wer die mittlerweile zweite Version auf DVD gesehen hat, dem wird
die Antwort wenig Kopfzerbrechen bereiten.
James Levine mobilisiert derart packende dramatische Energien,
dass der Zuseher Szenerie und Solisten oft nur als Detail am Rande
wahrnimmt. In dieser Aufzeichnung aus der New Yorker Met spricht
der eigentliche Handlungsträger aus dem Orchestergraben. Dafür
ist nicht allein Levine verantwortlich, sondern genauso die Präzision
und Musikalität seiner Spitzenkräfte: In der „Götterdämmerung“
hört man zwischen Streichern und Blech ein ständiges Geben
und Nehmen, das dem Teamwork einer gut eingespielten Kammermusikformation
nahe kommt. Dabei entstehen zielorientierte Bögen von einer
klanglichen Homogenität, bei der man meint, ein Lebewesen atmen
zu hören.
Klar ist aber auch, dass sich das Orchester nicht derart ins Zentrum
rücken könnte, wenn auf der Bühne ebenbürtige
Partner Paroli bieten würden. Am ehesten trifft das auf Christa
Ludwigs Waltraute zu und weniger auf ihre Fricka, die nur bedingt
an die Aufnahme unter Solti heranreicht. Bei Siegfried Jerusalem
ist der Fall ähnlich geartet: Dem Loge entlockt er Legato-Bögen,
die der wahre Wagner-Fan unbedingt einmal hören sollte –
als Darsteller des Siegfried legt Jerusalem eine Jugendlichkeit
an den Tag, die er akustisch nicht transportieren kann.
Und obwohl auf den sieben Silberscheiben alles versammelt ist,
was Ende der 80er-Jahre Rang und Namen hatte im Wagner-Fach, bleibt
von der übrigen Besetzung wenig Erfreuliches zu berichten.
Kaum auszumachen etwa, was sich James Morris bei der Interpretation
des Wotan dachte. Die Walküre von Hildegard Behrens hat zwar
wesentlich mehr Profil, doch matte Töne trüben es ebenso
wie der Bruch zwischen ihrer guten Höhe und der nicht so sicheren
Mitte und Tiefe. Jessye Norman gibt die Sieglinde allzu damenhaft,
Gary Lakes wird den idiomatischen Anforderungen des Siegmund nicht
annähernd gerecht. Nur Kurt Molls Hunding verleiht der „Walküre“
einen Schuss Authentizität. Schade, dass die Personenregie
mitunter auf ein Mindestmaß absinkt: Eine spannende Story
um allgemein-menschliche, auch heute noch aktuelle Fragen ist so
gut wie nie zu erleben – aber warme Orchesterklänge in
freiem Fluss dafür fast immer.
Oliver Wazola
Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen; James
Morris (Wotan, Der Wanderer), Siegfried Jerusalem (Loge, Siegfried),Heinz
Zednik (Mime), Jan-Hendrik Rootering (Fasolt), Matti Salminen
(Fafner, Hagen), Christa Ludwig (Fricka, Waltraute), Gary Lakes
(Siegmund), Kurt Moll (Hunding), Jessye Norman (Sieglinde), Hildegard
Behrens (Brünnhilde); Chor und Orchester der Metropolitan
Opera, James Levine; Inszenierung: Otto Schenk, Bühne: Günther
Schneider-Siemssen; Bildregie: Brian Large (1989/90)
DG/Universal 7 DVD 073 043-9 (938‘)