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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 19 ff.
52. Jahrgang | Juni
Rezensionen
Kurz vorgestellt
CDs
Olivier Messiaen: Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus;
Martin Zehn, Klavier.
Arte Nova 74321 85292
Martin Zehn hat eine ganz besondere Nähe zum Werk Messiaens.
Hier sein schönster Beweis. Wie subtil, wie farbenreich,
wie aufregend abwechselnd sind doch diese zwanzig Betrachtungen,
ein zentraler Klavierzyklus der ganzen Musikliteratur, gespielt!
Ein tiefes Erlebnis an interpretatorischer Genauigkeit und an
Weite der Welterfahrung.
Farben der Stille. Werke von Toru Takemitsu, Scott Roller,
Morton Feldman, Kaija Saariaho und Albrecht Imbescheid; Ensemble
Gelber Klang
Cybele SACD 361.201
Aufregend konturenreich sind alle diese stillen Stücke
gespielt. Nicht nur die genaue und sensible Interpretation durch
das vorzügliche Ensemble Gelber Klang besticht, sondern auch
die behutsame, gewissermaßen ein spektrales Feld aufbrechende
Auswahl der Stücke.
Iannis Xenakis: Kraanerg; Sinfonieorchester Basel, Alexander
Winterson
col legno WWE 1CD 20217
Das Ballett „Kraanerg“ ist eine der massivsten und
klanglich aufregendsten Partituren von Xenakis. Man befindet sich
im Würgegriff der Klangmassen, der stochastischen Prozesse,
die wie in einem Schmelzprozess von Metall immer andere Farben
und Bewegungsstände auswerfen. Der Anspruch an die Ausführenden
ist außerordentlich hoch. Das Sinfonieorchester Basel, ein
kleiner Abstrich, vermag leider das Exzesshafte dieser Musik nicht
in letzter Konsequenz zu realisieren.
Alfred Schnittke: Klavierquintett; Dmitri Shostakowich:
Streichquartett Nr. 15.; Alexei Lubimov, Klavier; Keller Quartett
ECM 1755 (461815-2)
Bestbesetzung! Lento steht als Titel über der CD und der
unergründliche Reichtum des Langsamen wird hier gleichsam
zelebriert. Schon der Beginn von Schnittkes Klavierquintett im
Klavier reißt durch Lubimovs unvergleichliches Spiel Welten
der Schatten und eines samtig gedämpften Lichtes auf. Immer
wieder: Arbeit an jedem einzelnen Ton, dessen Schwingungs- und
Verlaufskurve wie eine Monade das ganze Universum des Werks birgt.
Wer vermöchte das eindringlicher als diese Interpreten? Und
so ein Ausnahmewerk wie Schostakowitschs Quartett ist ganz in
diesem Sinne komponiert.
Carl Orff: Trionfi (Carmina Burana; Catulli Carmina; Trionfo
di Afrodite); Diverse Sänger; Chor und Symphonieorchester des
Bayerischen Rundfunks, Eugen Jochum.
DG MONO 474 131-2
Aufnahmen aus den Jahren 1953 bis 1956. Eugen Jochum in Seelenverwandtschaft
zu Carl Orff. Man mag sich am heute fremdartig wirkenden Duktus
mancher solistischer Sänger stören, aber die harmonische
Selbstverständlichkeit und das Gefühl für natürliche
Architektur und für Spannungsbögen, die ganz ohne demonstratives
Gebahren daherkommen, sind heute so kaum mehr möglich. Eine
wirklich sinnstiftende Wiederauflage.
Reinhard Schulz
DVDs
Händel: Rinaldo; David Daniels, Deborah York,
David Walker u.a.; Bayerisches Staatsorchester, Harry Bicket; Regie:
David Alden (2001)
Arthaus/Naxos DVD 100 388
Weder ideologische Verbissenheit, noch demonstrativ oppositionelle
Kampfansagen – für Regisseur David Alden ist „Rinaldo“
eine Musical-Revue, eine Comic-Story im Kreuzfahrer-Milieu. Zumal
mit David Daniels als Titelhelden auch die Besetzung viel zu bieten
hat.
Carlos Kleiber – Probe und Konzert: Südfunk-Sinfonieorchester,
Carlos Kleiber; Regie: Dieter Ertel (1970)
TDK/Naxos DVD DV-DOCCK
Wenn er in der Dokumentation seinen Musikern rät, sie sollten
den ersten Piano-Einsatz der Freischütz-Ouvertüre ihrem
Nachbarn überlassen – dann erhält man Ahnung davon,
weshalb Kleibers Interpretationen vor Musikalität und Menschlichkeit
nur so sprühen.
Puccini: La Bohème; Mirella Freni, Gianni
Raimondi, Adriana Martino, Rolando Panerei u.a.; Chor und Orchester
der Mailänder Scala, Herbert von Karajan; Regie: Franco Zeffirelli
(1965)
DG/Universal DVD 073 027-9
Man sollte keine hochtrabenden Regie-Konzepte von Zeffirellis
naturalistischer Verfilmung erwarten. Aber Karajans vor Leben
vibrierende Hand und die Kombination Freni/Raimondi erzeugen eine
Theateratmosphäre, die manch aktuelleres Video aussehen lässt
wie einen profanen Abklatsch von Puccinis Wintermärchen.
Bach: Konzert für Violine BWV 1041; Beethoven: Sonate
für Violine Nr. 5 op. 24; Debussy: Clair de lune und anderes;
David Oistrach u.a., English Chamber Orchestra, Sir Colin Davies
EMI DVA 4928369
Was diese DVD mit David Oistrach so besonders macht, ist die
Aufzeichnung von Bachs a-Moll-Konzert: Der langsame Satz wird
zum freischwebenden Gesang im endlosen Strom der Töne.
Oliver Wazola
Bücher
Kathy Kacer: Die Kinder aus Theresienstadt, mit Zeichnungen
von Helga Weissová, Ravensburger Taschenbuch, Ravensburg
2003, 224 S., € 6,95, ISBN 3-473-58188-7
Hans Krásas 1943 in Theresienstadt uraufgeführte
Kinderoper „Brundibár“ hat unter anderem dank
des international angelegten „Brundibár-Projektes“
der Jeunesses Musicales Deutschland in den letzten Jahren einen
hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Über die Zeit der Proben
und Aufführungen der Oper im Getto hat die kanadische Autorin
Kathy Kacer einen beeindruckenden Roman für Jugendliche geschrieben,
in dem geschildert wird, wie Musik und Theater bei Kindern inmitten
eines unvorstellbar grausamen Umfeldes doch Hoffnung und Begeisterung
zu wecken vermögen.
Hans Joachim Kreutzer: Faust. Mythos und Musik, Beck,
München 2003, 187 S., € 29,90, ISBN 3-406-50464-7
Einen weiten Bogen spannt Kreutzer von der Ursprungsform des
Faust-Mythos zu Schnittkes Oper „Historia von D. Johann
Fausten“. Im Vordergrund steht dabei die Untersuchung von
ausgewählten Werken aus dem Bereich des Musiktheaters, die
in den vergangenen zweihundert Jahren maßgeblich die Fortentwicklung
des Mythos getragen haben.
Antje Grajetzky: Komponisten und Ingenieure, Pfau
Verlag, Saarbrücken 2003, 97 S., Abb., € 14,-, ISBN 3-89727-214-8
Die enge Verzahnung zwischen den Entwicklungen auf dem Gebiet
der elektronischen Klangerzeugung und den Konzepten elektroakustischer
Musik hat ein ganz eigenes Beziehungssystem zwischen Komponist,
Instrument, Interpret und Rezeption geschaffen. Antja Grajetzky
zeichnet die spannende Geschichte einer Musik nach, die sich im
Wechselspiel zwischen musikalischer Kreativität und einem
rasanten technischen Fortschritt vollzogen hat.
Michael Wackerbauer
Noten
Johann Lütter (1913–1992): Vier Kanons für
Streichquartett. Partitur und Stimmen. Dohr E.D. 20704
(2001).
Was dieser rheinische Komponist bereitstellt, sind wenige Takte
umfassende, aber kontrapunktisch interessante Gebilde, bei denen
jeweils zwei der Quartettstimmen den strengen Kanon abgeben, während
die beiden anderen ein eigenes melodisches und leicht imitierendes
Eigenleben entwickeln.
Gott loben – das ist unser Amt. Orgelvorspiele zum
Evangelischen Gesangbuch, hrsg. von Christian Lehmann.
Bd. 3: Gottesdienst... (von insgesamt fünf Bänden). Merseburger
EM 1860
Für die gottesdienstliche Praxis und besondere kirchliche
Anlässe finden sich hier für die Kirchenlieder Nr. 155
bis 269 kleine, unschwierige, in Satzgestaltung und Klanglichkeit
zeitgemäß empfundene Vorspiele und Intonationen, meist
manualiter spiel- bar, geschrieben von einigen Dutzend Komponisten
des 20. Jahrhunderts.
John Wilbye (1574–1638): Wereep, weep mine eyes
(Weinet, weinet meine Augen), für Blechbläserquintett
arr. H.M.Dücker. Partitur und Stimmen. J. Weigert, Berlin (2001).
Dieser englischen Madrigalkünstler versteht es, seinen
Gedanken expressiven Ausdruck zu verleihen. Hier bringt die Bläserbesetzung
das Stimmengewebe pathetisch zur Entfaltung.
Fulvio Caldini (*1959): Fade-Control op. 47/c (1990) für
vier Blockflöten Sopran, Alt, Tenor, Bass; Partitur
und Stimmen. Ed.Moeck 2823 (2003).
Diese Blockflöten-Fassung ist neben drei weiteren für
verschiedene Holzbläser mit Klavier wohl diejenige, in der
die Intention dieses exponierten Avantgardisten am meisten überzeugt.
Im typischen Stil nordamerikanischer „minimal music“
entwickelt sich das in harten Reibungen lebende Klanggeschehen
von Pointilismus über einen polyrhythmischen Teppich zu einem
akkordischen Stretta.