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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 17
52. Jahrgang | Juni
Rezensionen
Repertoire-Jungbrunnen
Decca-Reihe „Entartete Musik“ wieder veröffentlicht
Ist die Krise groß, werden als erstes die Lager von Überflüssigem
befreit. Großreinemachen als Allheilmittel? Das Repertoire
schrumpft und der Kunde schaut in die Röhre. Den umgekehrten
Weg ist nun das Label Decca gegangen, indem es eine bereits ausrangierte
Reihe wieder ins Programm genommen hat, obwohl diese sich kaum als
Massenmagnet erweisen dürfte.
Die nazibraunen Kunsthüter eröffneten 1938 in Düsseldorf
eine Ausstellung mit dem Titel „Entartete Musik“, ein
Pen- dant zur vorangegangenen Münchner Schau „Entartete
Kunst“. Ein Titel, mit dem die Decca ab den 80er-Jahren eine
üppige CD-Reihe zierte, darunter viele Erstaufnahmen. „Entartete
Musik“ umfasst dreierlei: die Veröffentlichung von Werken,
die einst verboten waren; die Darstellung musikalischer Entwicklungen,
die unterdrückt wurden, bevor sie ausgereift waren; und die
Dokumentation von Exilmusik, die, als Reaktion auf neue Herausforderungen,
ungewöhnliche Ideen gebar. Im Ganzen eine riesige Fundgrube,
in der alle Gattungen vertreten sind, vom Chanson bis zur Oper,
dazu Klaviermusik, Lied, Ballett, Operette. Stilvielfalt, ehedem
geschmäht und jetzt (endlich wieder) hofiert. Ein Jungbrunnen,
nicht nur für Sammler.
Einer der Protagonisten ist Lothar Zagrosek, der unter anderem
mit fünf Opernproduktionen vertreten ist, darunter auch mit
Kreneks „Jonny spielt auf“. Die Geschichte vom Jazzgeiger
Jonny wird zum Feuerbad, lichterloh brennend, knisternd, flammend,
nicht zuletzt dank des hervorragenden Sängerensembles. Klangtechnisch
ist sie der einzigen Alternative von 1964 (unter Hans Hollreiser)
weit überlegen. Von Berthold Goldschmidts „Der gewaltige
Hahnrei“ nach Fernand Crommelyncks erfolgreichem Stück
von 1920 existiert ohnehin nur eine einzige Aufnahme: die mit Zagrosek.
Ihm kommt es mehr auf Verläufe an als auf Details, er bepinselt
die Partitur großflächig, weniger mit Blick auf einzelne,
glänzende Farben. Die durchsichtige Instrumentation leidet
darunter allerdings nicht zu sehr, außerdem warten die Sänger
mit einer Reihe von Kostbarkeiten auf. Einzig trüber Tropfen
im ansonsten bestens präparierten Bassin von Viktor Ullmanns
„Der Kaiser von Atlantis“ ist der ziemlich mürrische
Walter Berry als Tod. Weit beglückender dagegen Michael Kraus
als Kaiser und Iris Vermillion als Trommlerin, die als Zugabe Ullmanns
„Hölderlin-Lieder“ feilbietet. Kraus ist es auch,
der neben Matthias Goerne die Aufnahme von Braunfels „Die
Vögel“ dominiert. Wie umsichtig
Zagrosek durch klangschwelgerische Fin-de-siècle-Partituren
hindurchlotst, beweist er in Franz Schrekers „Die Gezeichneten“,
eine der besten Einspielungen der gesamten Reihe; glänzend
Heinz Kruse, der mit der eklig hohen Tessitura bestens zurechtkommt,
und Elizabeth Connell als Carlotta.
Hinein in die Nischen, in Klein- und Kleinstwerke, die gespickt
sind mit atonalen Zuspitzungen und unerwarteten Lichtschneisen,
in denen wild attackiert oder aber Tonzuckerwatte gereicht wird.
Ute Lemper singt „Cabaret Songs“ rund um Berlin, von
Spoliansky und Hollaender bis Goldschmidt; gegenüber den frühen
Dokumenten mit Blandine Ebinger ist sie eine Art Fischer-Dieskau
des Chansons. Lawrence Foster leitet erschütternd herb das
„Requiem Ebraico“ von Eric Zeisl, Matthias Goerne betört
mit Hanns Eislers „Hollywood Songbook“. In Sachen Zemlinsky
duellieren sich die Aufnahmen Riccardo Chaillys mit denen von James
Conlon (EMI). Einen klaren Gewinner indes gibt es nicht. Bei der
„Florentinischen Tragödie“ hat Conlon insgesamt
ein besseres Sänger-Ensemble zur Verfügung, Chailly dafür
das bessere Orchester. Eine Entdeckung ist Erwin Schulhoffs Tanzpantomime
„Die Mondsüchtige“ mit dem bewusst kratzigen Gewandhausorchester
Leipzig. Einige Durchhänger dagegen bietet Schulhoffs Klavierkonzert
mit Aleksandar Madzar und der Deutschen Kammerphilharmonie unter
Andreas Delfs. Das Ganze ächzt zu wenig, bleibt oft zu wattig,
im Finale fehlt die visionäre Kraft des Explosiven. Wie tief
einige Komponisten zwischenzeitlich im Brunnen der Ver- gangenheit
verschwunden waren, zei-gen die vom Matrix Ensemble erfrischend
bunt gedeuteten „Afrika-Songs“ von Wilhelm Grosz, der
irgend-wo zwischen Korngold und Eisler anzusiedeln ist. Ehrenrettung
für einen Vergessenen.
Einer der führenden Dirigenten dieser Reihe ist, neben Zagrosek,
der Amerikaner John Mauceri. Stellenweise seltsam verhuscht seine
Reminiszenz „Schönberg in Hollywood“, besonders
in der „Suite für Streichorchester“; auch bei der
Deutung des Korngold-Violinkonzerts mit Chantal Juillet gibt es
dank Jascha Heifetz Aussagekräftigeres. Seine Einspielung von
Schulhoffs Don-Juan-Oper „Flammen“ spielt allerdings
in einer anderen Liga. Eindrucksvoll furchterregend Iris Vermillion
als Tod, Kurt Westi gibt einen trefflich windig-winkligen Verführer,
meisterlich auch Jean Eaglen in diversen Frauenpartien. Als spitzfindiger
Anwalt für Orchesterstimmen erweist sich Mauceri auch in Korngolds
„Das Wunder der Heliane“ nach Hans Kaltnekers Mysterienspiel
„Der Heilige“. Das RSO Berlin animiert er zu einem stellenweise
hinreißenden Spiel zwischen Mystik, Spekulation und Konkretheit.
An der Seite der sopranhell funkelnden Anna Tomowa-Sintow in der
Titelpartie singen John David de Haan, René Pape und Nicolai
Gedda auf durchweg gleich hohem Niveau.
In summa: eine Reihe voller Überraschungen, Entdeckungen,
Neubegegnungen. Natürlich gibt es vereinzelt Mäkelpunkte.
Das liegt in der Natur der Sache. Doch sie verschwinden angesichts
der Verdienste des Konzepts und seiner Ergebnisse. Dem Hörer
werden zahllose Türen geöffnet, die lange verschlossen
waren. Er betritt fremde Räume, neue Welten. Genügend
Zeit, um sich darin umzutun, sollte man allerdings mitbringen: 30
CDs erfordern Sitz- und Hörausdauer. Wem das zu viel ist, der
sollte sich wenigstens den Sampler zu Gemüte führen. Darauf
gibt es die Highlights als Häppchen. Qualitäts-Fast-Food
für die Eiligen.