[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 22
52. Jahrgang | Juni
Noten
Er klingt leicht brahmsisch…
Neue Notenausgaben und -bearbeitungen für Klavier zu vier
Händen
Es ist sicher Zufall und eben doch signifikativ für die derzeitige
Situation, dass zwei von drei der jüngsten Neuerscheinungen,
die der nmz-Redaktion zur vierhändigen Klavierliteratur vorliegen,
zwar in unterschiedlicher Weise, aber beide die Rubrik „Bearbeitungen“
betreffen. Dem Oberbegriff haftete im 20. Jahrhundert lange Zeit
innerhalb der E-Musik etwas Unseriöses an mit einem negativen
Beigeschmack, im Unterhaltungssektor nolens volens zu akzeptieren.
Inzwischen ist ein Bedürfnis zu spüren, diesem Phänomen
mit einer differenzierteren Sichtweise besser gerecht zu werden.
Franz Schubert: 20 Ländler für Pianoforte zu
vier und zu zwei Händen. Bearbeitet von Johannes Brahms,
Universal Edition UE 31958
Johannes Brahms als Bearbeiter, zumal fremder Werke, mag für
den einen oder anderen noch eine Überraschung bedeuten. Bei
der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um die original zweihändigen
Ländler für Klavier D 366 und D 814 von Franz Schubert,
das sind einmal 17, das andere Mal 4 Stücke. (Da das letzte
Stück der ersten Serie deckungsgleich mit dem ersten der zweiten
Serie ist, kommt es in der Gesamtfolge bei Brahms auf zwanzig Stücke).
Der Herausgeber Peter Roggenkamp hat eine lobenswerte Präsentation
vorgelegt.
Die Ausgabe wird eröffnet mit den 20 Ländlern in der vierhändigen
Übertragung von Brahms. Schuberts Autographe der zweihändigen
Stücke waren damals im Besitz von Brahms, so dass dieser sich
auf das authentische Urgestein des Komponisten stützen konnte.
In der vorliegenden Ausgabe sind auch die zweihändigen Fassungen
aufgenommen. So kann der Benutzer vergleichen und bestätigt
finden, was Roggenkamp in einem klugen einleitenden Text resümiert:
„Brahms hat sich an Schuberts Vorlagen gehalten und keine
Töne verändert; dennoch ist der Klaviersatz durch Verdoppelungen
kompakter als in der Vorlage, er klingt leicht brahmsisch.“
(Zu ergänzen, dass einige Oktavierungen und andere Verdoppelungen
auch schon bei Schubert im Zweihändigen vorkommen!) Übrigens,
worauf in der vorliegenden Ausgabe nicht hingewiesen wird, hat Schubert
zwei der 20 Stücke auch schon vierhändig übertragen,
das eine mit einer interessanten neuen Modulation imzweiten Teil
leicht verändert befindet sich als Trio I unter den ,,Deutschen
mit 2 Trios“ D 618, das andere ist unverändert übertragen
die Nummer eins in den „Vier Ländlern“ D 814.
Reinhard Febel: 7. Choralbearbeitungen nach Johann Sebastian
Bach für Klavier zu vier Händen, Ricordi München
Sy.2750-57
Hier geht es um eine andere Art von Bearbeitungen. Sechs Choralbearbeitungen
von Bach hat Febel ausgewählt, eine von ihnen, „Wo soll
ich fliehen hin“ (BWV 694), zweimal bearbeitet. Febel verhält
sich bei den Vorlagen Bachs, die mehr oder weniger textgetreu als
Grundlage dienen, unterschiedlich. Mal beschränkt er sich im
Wesentlichen auf die Textübernahme von Bach und arbeitet unter
Umständen nur mit Verschiebung der Stimmen durch Oktavversetzungen
und Oktavierungen, vergleichbar den Modifizierungen durch entsprechende
Orgelregister (zum Beispiel bei ,,Ich ruf zu Dir“, BWV 639).
Mal gibt es kleine Veränderungen, die aber vielleicht schon
einen künstlerischen, ja spirituellen Hintergrund berühren:
Die letzte Choralzeile von „Nun komm der Heiden Heiland“
ist bekanntlich gleich der ersten: Es schließt sich ein Kreis!
Für Bach in seinem Choralvorspiel BWV 659 ist das gleiche Gesetz
bindend, die Dimension nur eine größere. Dagegen führt
Febel nicht zum Ausgangspunkt zurück, sondern wandelt, den
Bach-Text stückchenweise immer weiter transponierend, bis zu
einem Punkt, wo er im Tritonus entfernt zum Ausgangspunkt des Chorals
liegt. Ist das Aufbruch zu einer neuen Perspektive dieser Musik
oder bedeutet es Aufgabe eines grundsätzlichen künstlerischen
und spirituellen Sinns, der als vorgegeben zu betrachten ist? Einige
Male fügt Febel nicht unerhebliche Zusätze eigener Vorstellungen
und persönlicher Inspiration hinzu, die Aufmerksamkeit wecken
und vor allem in klanglicher Hinsicht zu einem spürbar veränderten
Bild gegenüber der ursprünglichen Struktur führen:
„Allein Gott in der Höh“ (BWV 663) und „Erbarme
dich mein“(BWV 721). Da wird es eine Frage des persönlichen
Standorts sein, ob man dies mit Faszination akzeptiert oder eine
Art Verhüllung empfindet, wie man es in anderer Form und auf
völlig anderem Gebiet, nämlich visuell, 1995 am Berliner
Reichstag erleben konnte. Reinhard Febel ist 1952 in Metzingen geboren
und seit 1997 Professor für Komposition am Mozarteum in Salzburg.
Robert HP Platz: Kinderstücke für Klavier zu
2 und 4 Händen (mit Tonband oder zweitem Klavier),
Ricordi Sy.2707
Als Drittes liegt von dem 1951 in Baden-Baden geborenen und in
Köln lebenden Robert HP Platz ein Heft mit drei kurzen originalen
Klavierstücken vor, das im oben genannten Verlag zu einer Serie
unter dem Titel „Neue Klangformen – Neue Spielformen,
die Reihe für Neugierige“ gehört. Eine deutliche
Verbindung ist zunächst zwischen den beiden ersten zweihändigen
Stücken erkennbar, die während eines Rußsslandbesuchs
des Komponisten entstanden sind. Zum Verständnis der seltsamen
Überschrift zum zweiten Stück muss man das Vorwort, vor
allem in der englischen beziehungsweise französischen Version
lesen. Wenn Davina, quasi als Widmungsträgerin genannt, ein
russisches Mädchen aus Rusa sein sollte, wäre die Überschrift
„Strasdvuidje“ als russisches „Guten Tag“
ohnehin sinnvoller und aussagekräftiger als das verballhornte
„Gestresste Würstchen und ...“ Das dritte Stück
ist für vier Hände komponiert. Wenn man hier dem Vorschlag
von Platz folgt, ist ein auf der letzten Seite noch vorhandener
zusätzlicher Notenteil zu diesem Stück auf Tonkassette
aufzunehmen, die parallel zum Live-Spiel von Primo und Secondo von
Takt 16 ab für die letzten zwöf Takte ablaufen muss. Sonst
bedürfte es eines dritten Spielers an einem zweiten Instrument
– beides natürlich für eine so kurzes Stück
ein unverhältnismäßig großer Aufwand! –
,aber es gilt wohl hier, einfach mit diesen Stücken an kleinen
Beispielen Neugierde für das Neue zu wecken. Und das könnte
gelingen, denn der Komponist hat sich von seiner Inspiration in
Verbindung mit Anregungen von Kinderseite leiten lassen, etwas auf
die Klaviertasten zu bringen, das man ein Mittelding von freitonalen
Improvisation und motivisch deutbaren Strukturen in Richtung von
Minimais in einem freitonalen Raum nennen könnte. Ganz elementare
Spielkenntnisse reichen zur Bewältigung der Stücke übrigens
nicht aus, nicht einmal für den kurzen Secondo-Part in Nummer
drei. Der für die Editionsreihe zuständige und auch in
der Gestaltung der Ausgabe mitverantwortliche Christoph Jäggin
hätte an einigen Stellen seine lenkende Hand etwas glücklicher
einbringen können, vor allem die dritte Seite von „Bäume
abgestorben“ in aufklappbarer Form eines Doppelblattes, um
die Übersicht über das gesamte Stück zu ermöglichen.