[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/7-8 | Seite 6
52. Jahrgang | Jul./Aug.
Kulturpolitik
Mehr gesellschaftliche Wertschätzung
GEMA-Mitgliederversammlung 2003: Statement zur Situation „Neue
Musik“ · Von Enjott Schneider
Enjott Schneider ist – neben Wolfgang Rihm in stellvertrender
Funktion – der einzige E-Musik Komponist, der nach der Wahl
durch die GEMA-Mitgliederversammlung mit dem höchsten Ergebnis,
nämlich zwei Dritteln der Stimmen, im GEMA-Aufsichtsrat verblieben
ist. Ein Grund könnte die Sprachlosigkeit, oder das Desinteresse
seiner E-Kollegen gewesen sein. Außer ihm hielt keiner ein
Statement. Die neue musikzeitung druckt Schneiders Statement zur
Aufsichtsratswahl mit leichten Kürzungen ab.
In meinem Selbstverständnis als „Integrationsfigur“
(Komponist jenseits einer Differenzierung von „E“- und
„U“-Musik) empfinde ich es als kontraproduktiv, dass
wir uns in der Komponistenkurie der GEMA ständig um Prozentquoten
des Verteilungsplanes rangeln und uns dabei in Gruppen auseinanderdividieren,
statt gemeinsam und solidarisch andere wichtigere Probleme (etwa
mehr gesellschaftliche Wertschätzung von Musik in der gegenwärtigen
Kulturpolitik, bessere Standpunkte gegenüber Verlegern und
Musikindustrie) anzugehen. Deshalb hier ein analytisches Statement
– sozusagen „von außen”.
These: Die Problematik des Verteilungsplanes
ist eine Problematik der E-Musik! Bislang wurde die GEMA von Vertretern
der „E“-Musik dominiert. Durch die auf diesem Sektor
rückläufigen Entwicklungen der letzten zehn Jahre (zeitgenössische
„E”-Musik wird als Produktivkraft innerhalb der GEMA
und generell im Musikleben zunehmend marginaler) ist eine Irritation
eingetreten, die zu einer falschen Lösung führte: Man
sucht den Fehler für ausbleibende GEMA-Tantiemen in dem fingierten
Feindbild von „U”-Komponisten und prügelt nun den
Hund – die „Werbekomponisten” – statt den
Herrn. Kurz: Es wurde in den letzten Jahren nicht „zuviel
Werbemusik“ gemacht, sondern zu wenig „E”-Musik
gespielt und gesendet… Das ist das eigentliche Problem.
Deshalb sehe ich es als meine Aufgabe als „E“-Komponist
an, mich für mehr zeitgenössische Musik im aktuellen Musikbetrieb
(von Konzertsaal bis Radiosendung) einzusetzen. Das kann nur grundlegend
und langfristig geschehen. In Punkten zur Diskussion:
Die „Musealisierung“ des Konzertlebens und Rundfunkbetriebs
hat ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Aktuell komponierte
Musik in Konzert- und Rundfunkprogrammen nimmt gerade noch etwa
drei bis fünf Prozent ein. „Neue Musik“ muss
sich in ihrem Anspruch (Stilistik, Komplexität, Sprachgestus)
so verändern, dass sie das Bedürfnis einer breiten Bevölkerungsschicht
nach „Neuem” abdeckt und nicht nur das Bedürfnis
eines spezialisierten Insiderpublikums.
Der Begriff „Neue Musik” und „zeitgenössische
Musik” muss aus dem Ghetto gelöst werden und nicht
nur für einen bestimmten Avantgarde-Stil einer kleinen Komponistengruppe
angewandt werden. Ich nenne diesen Stil die „Akademische
Neue Musik“, da er meistens vertreten wird durch die Professoren
von Musikhochschulen, Akademien, den Bürokratien von Rundfunk
und Deutschem Musikrat, den musikwissenschaftlich ausgebildeten
Schreibern der Feuilletons.
Eine große Zahl von „E”-Komponisten werden
im Raster von Rundfunk, Feuilleton, Akademismus und Musikrat nicht
(nur wenig) erfasst: tonal schreibende Komponisten, Komponisten,
die funktionale Musik, motorisch-tanzbare Musik, religiöse
Musik (für Kirche oder freie Spiritualität) schreiben,
Komponisten für Theatermusik, Hörspielmusik und Filmmusik.
Vor allem die Rundfunkprogramme spiegeln in Sendestrukturen und
Vergabe von Kompositionsaufträgen sehr deutlich diese Bevorzugung
einer „Akademischen Neuen Musik“ wider.
Ein delikates Problem ist die Frage der nationalen Identität.
In der Pop-Branche wird ohne Verdacht auf Chauvinismus oder Nationalismus
längst die „Quotenregelung“diskutiert. In der
„Neuen Musik” ist das längst auch notwendig,
weil hier eine unglaubliche Bevorzugung nicht-deutscher Komponisten
zu verzeichnen ist.
Etwa: Im Programm der Musica-Viva-Reihe des BR wurden in der Spielzeit
2002/03 24 ausländische, nur aber sieben deutsche Komponisten
gespielt. Dieser für mich nicht tragbare Zustand ist typisch
für die gesamte „Neue Musik“-Szene an deutschen
Rundfunkanstalten. Auch außerhalb der speziellen „Musica
Viva“-Reihe hat diese Tendenz zur Bevorzugung ausländischen
Repertoires Tradition: etwa in einem Kammermusik-Konzert des BR
mit Musik aus der Zeit 1880-1930 werden ebenfalls sechs ausländische
Werke eingespielt, deutsche Komponisten aus diesem Zeitraum nicht
berücksichtigt. (In Frankreich, Italien oder England etwa
wird weit mehr nationales Repertoire an „E“-Musik
gespielt).
Öffnung der „E“-Musik zu neuen Technologien
dürfte einer Verbreitung von „E“-Musik in der
Gesellschaft dienlich sein: multimediale Kombinationen (das Konzept
„Musik visuell”, wie ich es im Deutschen Musikrat
schon vor drei Jahren als Mittel der Förderung darlegte),
unbefangeneres Einbeziehen von Massenmedien (vor allem des Fernsehens)…
„Komponieren ist Kunst“ contra „Fernsehen ist
Masse“ steckt als Gleichung noch in vielen Köpfen.
Wir leben in einer Massen-Mediengesellschaft (mit Strukturen der
Öffentlichkeit, die von Fernsehen, Internet, CD und DVD bestimmt
sind). In den Köpfen vieler „E“-Komponisten spukt
noch eine bürgerliche Öffentlichkeitsstruktur, die nach
wie vor von Konzertsaal, Kammermusiksaal und subventioniertem
Stadttheater bestimmt ist… Strukturen, die heute ins zweite
Glied gerückt sind und ein neues Öffentlichkeitsbild
erfordern.
Fazit: „Neue Musik“ sollte sich attraktiver
machen und statt eines 5-Prozent-Publikums jene weiteren 30 Prozent
zurückgewinnen, die aus Frustration vor einem zu verengten
Begriff zeitgenössischer Musik dann zu „musealen Musikformen“,
zu Popmusik oder zu Crossover-Musik sich zurückgezogen haben.
Ein großer Teil der Gesellschaft hat ein Bedürfnis nach
nicht-komplexer, emotional leichter zugänglicher Neuer Musik.
Unsere übertriebene, fast antagonistische Kontrastierung von
„E“ (in mimotischer, hyperindividualistischer Tonsprache)
auf der einen Seite und „U” (massenorientierte musikalisch
schnell belanglose Tonsprache) auf der anderen Seite sollte aufgehoben
und in ihrem Mittelfeld ausgebaut werden. Dies ist auch eine Aufgabe
der Ausbildungsstätten wie Musikhochschulen, wo vorwiegend
immer noch einseitig ein „Neue Musik”-Verständnis
im Adorno’schen Sinne (die Linie Brahms-Schönberg, Webern…
Darmstadt fortführend) gelehrt wird. Mehr Wirkungsästhetik
statt selbstreflexive Werkstrukturen.
Man sollte deutschen Komponisten nicht unter den permanenten Druck
dieses „elaborierten Kunstanspruchs“ stellen, sondern
ihnen auch zugestehen, was zum Beispiel ausländischen Komponisten
viel natürlicher zugestanden wird: naiv, tonal, spirituell,
funktional, optimistisch, volksnah oder tänzerisch zu sein,
einem Arvo Pärt, Terterjan oder Messiaen gesteht man spirituelle
Dimensionierung bei einfachsten Sprachmitteln zu…. als deutscher
Komponist gilt man sofort als im „Kunst“-Sinne nicht
ernstzunehmender Kirchenkomponist; einem spanischen , südamerikanischen
oder russischen Komponisten gesteht man das Recht auf „sinfonische
Tänze“ zu… als deutscher Komponist komponiert man
in solchem Falle sofort ,gehobene Unterhaltungsmusik’.
Würde sich „Neue Musik“ in ihrer gesellschaftlichen
Fundamentierung wieder auf zirka 30 Prozent Anteil verbreitern und
genügend deutschen Komponisten Raum in Konzert- und Rundfunkprogrammen
geben, dann würden sich durch den drastisch angehobenen Teil
der Ausschüttung von „E“-GEMA-Tantiemen an die
E-Musik-Komponisten Streitereien um den GEMA-Verteilungsplan harmlos
auflösen. Die Schaffung einer neuen deutschen „Zeitgenössischen
Musik“ jenseits des Ghetto-Daseins (bei der das Attribut „E“
nicht unbedingt „ernst“ im Sinne von Dauer-larmoyant
heißen müsste) müsste so vital sein, dass sie bei
Zuhörern und Spielern genausoviel Lust & Spaß beim
Zuhören und Musizieren bereitet wie die „museale”
Musik, dann wäre allen gedient: den Berufsanfängern der
„E“-Musik, den alten Hasen der „E“-Musik,
den Verlegern… und auch den Werbekomponisten, auf die nicht
länger unberechtigt geprügelt werden darf…