In der nmz vom Juni 2003 (Seite 48) versucht Martin Gellrich die Frage zu
beantworten, ob Pianisten (Professionelle und Laien) im 19. Jahrhundert besser
gespielt hätten als heutige Pianisten. Bereits im Vorspann wird postuliert,
dass sich diese These „anhand der historischen Veränderung der
Übezeiten mit ziemlicher Sicherheit belegen [lässt]“. Wenn
alle musikwissenschaftlichen Fragen von instrumentalpädagogischer Tragweite
sich auf so einfache und plausible Weise abhandeln ließen, wie Gellrich
es uns vorexerziert, dann wäre das schön. Allerdings möchte
ich sowohl zur Art seiner Darstellung als auch zu den inhaltlichen Grundlagen
einige kritische Anmerkungen machen. Ich möchte an dieser Stelle bereits
auf die gegenteiligen Schlüsse hinweisen, zu denen ich gelangen werde.
Zunächst einmal fasse ich kurz Gellrichs Aufsatz zusammen, so wie ich
ihn verstanden habe: Der Autor führt eine Reihe von Fällen an, aus
denen sich aufgrund vorwiegend anekdotischer Aussagen ergibt, dass Pianisten
im 19. Jahrhundert viele Stunden, das heißt zwischen 8 und 18 Stunden,
am Klavier verbracht haben sollen. Das Argument läuft darauf hinaus,
dass wesentlich mehr und vor allem mehr technische Übungen („oft
fünf Stunden und mehr für technische Übungen“) gemacht
wurden als heute. Außerdem hätten besonders Anfänger häufiger
in der Woche Unterricht gehabt als heute. Gellrich führt außerdem
seinen persönlichen Eindruck beim Anhören von Aufnahmen historischer
Pianisten an, dass „man immer das Gefühl [hat], dass sie auch beim
Spiel der schwierigsten Werke immer noch große technische Reserven haben
(...)“. All das soll als Indizienbeweis für den extrem hohen pianistischen
Stand im 19. Jahrhundert dienen, der deutlich über dem pianistischen
Niveau späterer Generationen gelegen haben soll. Durch einen Paradigmenwechsel
in der Klaviermethodik, die kürzere Übezeiten propagierte, sei dann
in Folge zwischen 1900 und 1930 das Klavierspielniveau abgesunken. Heutige
Übeniveaus bei „Jugend Musiziert“ seien ebenfalls niedriger
als im 19. Jahrhundert und ließen deshalb auf eine entsprechend geringe
Spielfertigkeit schließen.
Nun zu meiner Einschätzung der Sachlage. In seiner Argumentation im
Hinblick auf die Übestunden bezieht sich Gellrich (ohne Beleg!) auf die
Expertiseforschung, die einen Zusammenhang von Übung und Leistung postuliert
(siehe unten). Seine historische Betrachtung lehnt sich an historiometrische
Analysen zur Entwicklung von Fertigkeiten in Sport und anderen Bereichen an
(ebenfalls ohne Beleg!), die normalerweise mit strengen wissenschaftlichen
Maßstäben operieren. Durch maßlose Verkürzung und Vereinfachung
der komplexen Sachverhalte vermittelt Gellrich dem Nichtfachmann eine Plausibilität,
die eben nur eine solche ist. Außerdem suggeriert die Überschrift
einen Vergleich zu heute, während Gellrichs Aufsatz fast ausschließlich
Aussagen über die Zeit bis 1930 macht.
Übezeit ist nur ein Indikator
Nun zum inhaltlichen Aspekt: Übestunden sind in der Expertiseforschung
in kontrollierten Studien lediglich ein Indikator für optimal investierte
Zeit und damit letztlich auch für das erreichte Spielniveau, und deshalb
nicht notwendigerweise ein direktes Maß für Leistungsfähigkeit.
Man misst beispielsweise in einem Experiment die Lebensübezeit von Versuchspersonen
sowie eine bestimmte instrumentale Leistung und versucht, Unterschiede in
der Leistung durch Unterschiede in der Lebensübezeit zu erklären.
Dagegen wirken die Quellen, auf die sich Gellrich bezieht, willkürlich
ausgewählt und größtenteils nicht abgesichert.
Sollten diese Quellen jedoch annährend der Wirklichkeit entsprechen,
muss eingeschränkt werden, dass reine Übezeiten ohne Angabe des
Zeitraums, über den das Pensum gehalten wurde, nicht ohne weiteres mit
Spielniveau gleich gesetzt werden können – und genau das fordert
Gellrich von seinen Lesern.
Einige mir bekannte Berichte über das Üben der Pianisten im 19.
Jahrhundert decken sich mit denen des Autors, allerdings wurde meines Wissens
während der technischen Übungen eventuell auch Zeitung gelesen oder
sich unterhalten (wie man es manchmal heute auch bei Barpianisten sieht) oder
Stellen wurden 100 mal fehlerfrei wiederholt. Zeit am Klavier ist also nicht
immer gleich Üben im eigentlichen Sinn, und deshalb hat die Expertisetheorie
für wirklich optimales Üben, das dem Ziel der Verbesserung dient
und ihn auch erreicht, den Ausdruck „zielgerichtetes Üben“
(„deliberate practice“ oder „formal practice“) eingeführt.
Eine Summierung dieser Übezeiten im Rahmen kontrollierter Forschung hat
sich in verschiedenen Studien als Korrelat von Spielleistung herausgestellt.
Die Übezeiten von historischen Personen zuverlässig festzustellen,
hat sich aus meiner Forschungserfahrung als nahezu unmöglich herausgestellt,
zumal eine punktuelle Schätzung dabei nicht hilfreich ist (wer hat zum
Beispiel nicht schon mal vor einem Vorspiel extrem lange geübt, weil
das Stück noch nicht saß?). Andere Beschäftigungen am Instrument,
die nicht als „deliberate practice“ gelten können, haben
sicherlich auch ihren Reiz und Nutzen. Meine Einschätzung geht dahin,
dass zwar viel, aber lange nicht so effektiv und zielstrebig wie heute geübt
wurde. Außerdem sind historische Aussagen über die Dauer des Übens
extrem problematisch. Gellrichs Aufsatz kann das methodische Problem zur Bestimmung
von Lebensübezeiten nicht befriedigend lösen (er versucht es nicht
einmal) und tut so, als ob eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen der am Instrument
verbrachten Zeit und der erzielten Leistung bestünde, die wissenschaftlich
so nicht belegbar ist.
Es gibt allerdings noch ein wichtiges physiologisches Argument, welches
derartig lange Zeiten sinnlos erscheinen lässt, im Zusammenhang mit den
von Gellrich recherchierten „Megaübezeiten“ (mein Ausdruck),
. Nach Erkenntnissen der Kognitionswissenschaft, an denen sich auch die Expertiseforschung
orientiert, ist der Mensch lediglich in der Lage, als Erwachsener vier bis
fünf Stunden lang (als Kind vermutlich weniger) aufmerksam und konzentriert
zu arbeiten. Aus diesem Grund werden Fluglotsen, Busfahrer und andere Berufstätige
in Beschäftigungen, in denen fortwährende Wachsamkeit gefordert
ist, in ihren Arbeitszeiten stark begrenzt und streng überwacht. Wissenschaftler,
Komponisten und Schriftsteller, die sich ihre Zeit einteilen konnten, nutzen
etwa diesen Zeitraum für anstrengende geistige Arbeiten. Ein Pensum von
deutlich mehr als fünf Stunden ist vermutlich auf Dauer physisch und
psychisch nicht durchzuhalten; das ist heute so und war vermutlich bereits
im 19. Jahrhundert nicht anders.
Gellrichs Beleg des häufigeren Unterrichts ist sicherlich richtig.
Meine Nachforschungen im Rahmen historiometrischer Studien zeigen, dass „Klavierwunderkinder“
durch die Musikgeschichte hindurch einen Lehrer im Haus beziehungsweise in
enger Nachbarschaft zu ihrem Lehrer gelebt haben, damit häufiger Unterricht
sowie überwachte Übung stattfinden konnte. Wie gut der Klavierunterricht
auf breiter Front im 19. Jahrhundert gewesen ist, kann ich derzeit nicht ohne
weiteres beurteilen. Sicherlich wird es auch gute Lehrer gegeben haben, aber
die Mehrheit wird wohl aufgrund ihrer mangelnden pädagogischen Ausbildung
eher schlecht gewesen sein (ich erinnere an das Bild der gestrengen, fingerschlagenden
Klavierlehrerin, die sich lieber selbst spielen hörte als ihre Schüler).
Eine genaue Untersuchung zu diesem Thema ist mir nicht bekannt (Informationen
finden sich am ehesten noch in Wehmeyer, 1983).
Wenn wir Gellrich und seiner Theorie der pianistischen Überlegenheit
des 19. Jahrhunderts glauben wollten, müssten wir weiterhin einige widersprechende
Beobachtungen und Konsequenzen aufklären, die er noch nicht einmal anspricht.
Was seine Theorie implizieren würde, wäre nämlich, dass
• 250 Jahre Klavierpädagogik eher Rückschritte als Vorwärtsschritte
bewirkt hätten, vor allem im Bereich der auf Kinder spezialisierten Instrumentalpädagogik;
• Ligetis Etüden und Barbers Sonaten aus Sicht der darin geforderten
extrem anspruchsvollen Spieltechnik auch problemlos im 19. Jahrhundert hätten
entstehen und von jungen Leuten gespielt werden können;
• die Klavierliteratur Anfang des 20. Jahrhunderts hätte leichter
werden müssen, um dem Absinken der Fähigkeiten zu entsprechen;
• die Klaviere technisch auf etwa dem Stand von heute waren, was die
Kontrolle von Lautstärke und Spielgeschwindigkeit angeht;
• die Künstler ausgerechnet auf den ersten Tonträgern, die
noch etwas Besonderes darstellten, sich unter Wert verkauft hätten;
• die Pianisten am Anfang des Jahrhunderts nicht die großen Werke
des 19. Jahrhunderts hätten sauber spielen können, wie man an Einspielungen
hören sollte;
• die Pianisten im 19. Jahrhundert ohne technische Aufnahmemöglichkeiten
und damit verbundene Vergleichsmöglichkeit mit anderen Professionellen
zu ähnlich hohen Qualitätsstandards gelangt wären wie heute;
• die Kritiker der fraglichen Zeit zuhauf den Verfall der Pianistik
beklagt hätten;
• die Jurymitglieder von „Jugend Musiziert“, die seit Jahrzehnten
enorme Leistungsanstiege bei den jungen Pianisten erleben und diese auch in
der nmz dokumentieren, einen Trend dokumentieren, der sich bereits im 19.
Jahrhundert schon einmal genauso abgespielt hat;
• die wissenschaftlichen Studien zur Leistungsentwicklung im musikalischen
Bereich, die zum Teil von mir stammen, und mit denen sich Gellrich nicht auseinandergesetzt
hat, unrichtig sind, weil wir zu genau den gegenteiligen Ergebnissen kommen,
nämlich einem historischen Leistungszuwachs, der sich in höherer
Spielfertigkeit besonders bei den Jüngeren niederschlägt.
Ohne jeden der gerade genannten Punkte diskutieren zu wollen, sollte offensichtlich
sein, dass eine sinnvolle Beschäftigung und Theoriebildung zu historischen
Leistungsveränderungen nur dann möglich ist, wenn die Theorie zumindest
einen Teil der gelisteten Problempunkte befriedigend erklären kann und
methodisch sauber gearbeitet wird. Auch wenn Martin Gellrich sich mit seiner
Dissertation einen Namen im Bereich der deutschen historischen Übeforschung
gemacht hat, sind seine Ideen im Hinblick auf ein pianistisches „Paradies“
im 19. Jahrhundert, zumindest in der in der nmz vorgestellten Form, auf keinen
Fall wissenschaftlich haltbar. Der Autor sucht Quellen, die zu seiner Idee
passen, und springt auf einen vermuteten kulturpessimistischen Konsens in
der Leserschaft und einer damit verbundenen Bereitschaft auf, dem plausibel
anmutenden und scheinbar wissenschaftlich belegten (Literaturangaben!) Gedankengang
zu folgen.
Die „Verarbeitung“ existierender wissenschaftlicher Ansätze
zur Thematik erscheint mir fragwürdig. Bis zur ausführlichen Publikation
dieser Ideen in einer begutachteten wissenschaftlichen Zeitschrift oder in
einem Buch eines renommierten Verlages möchte ich die geneigten Leser
zu kritischer Distanz ermuntern.
Andreas C. Lehmann, Würzburg
Literatur
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Folgerungen für optimales lernen und Kreativität. In: H. Gembris,
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aus Sicht der
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Lehmann, A.C. & Ericsson, K.A. (1998): The historical development
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Lehmann, A.C. (1998): Historical increases in expert performance suggest
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der internationalen Tagung der Gesellschaft für Musikforschung, Halle.
1998 (S. 332–340). Mainz, Schott
Wehmeyer, G. (1983): Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier oder Die
Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideologie, Bärenreiter,
Kassel