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nmz-archiv
nmz 2003/06 | Seite 48
52. Jahrgang | Juni
Dossier: Amateure
& Liebhaber
Spielte man im 19. Jahrhundert besser als heute?
Anmerkungen zur historischen Entwicklung der Übezeit · Von
Martin Gellrich
Die These, dass im 19. Jahrhundert Pianisten, und zwar sowohl Laien- als
auch Berufspianisten, ein gutes Stück besser als heute spielten, lässt
sich anhand der historischen Veränderung der Übezeiten mit ziemlicher
Sicherheit belegen.
Im 19. Jahrhundert waren Klavierspieler viel fleißiger als heute. Milchmeyer
empfiehlt bereits 1797 eine Übezeit von acht Stunden pro Tag (Kullak,
Niemann 1922, 71). M. Clementi soll schon als Kind acht bis 14 Stunden am
Tag Klavier geübt haben, um sein tägliches Pensum bewältigen
zu können (Platinga 1977, 6). L. Köhler brachte es täglich
auf acht Stunden Übezeit, Dreystock und Kalkbrenner übten täglich
zwölf Stunden. A. Henselt soll 16 Stunden pro Tag Klavier geübt
haben (Músiol 1881, 3, Nautsch 1983, 21). Teilweise sollen Pianisten
sogar bis zu 18 Stunden am Klavier verbracht haben (Kontzki 1851, 9). Die
umfangreichen Übezeiten galten bereits für Kinder. L.-E. Gratia
berichtet, dass junge Kinder ‘sechs, sieben, acht, manchmal sogar noch
mehr Stunden am Klavier verbringen’ (Gratia 1914, 12), und H. Wohlfahrt
schreibt, dass Kinder oft halbe Tage lang am Klavier festgehalten werden (Wohlfahrt
1876, 5).
Umfangreiche Übezeiten waren im 19. Jahrhundert bereits für Klavieranfänger
verbindlich. Sie erhielten früher täglichen (!) Unterricht und mussten
außerdem jeden Tag noch ein bis zwei Stunden alleine üben. So bemerkt
es A. E. Müller im Vorwort zu seiner Klavierschule (Müller 1804,
4). C. Czerny schreibt in seiner Klavierschule, dass ein Klavieranfänger
jeden Werktag eine Unterrichtsstunde erhalten und zusätzlich täglich
eine Stunde alleine üben solle (Czerny 1839 III, 5).
Es ist klar, dass Übezeiten von 8 bis 18 Stunden für Kinder und
Jugendliche galten, die auf eine Karriere als Berufsmusiker hinsteuerten.
Aber auch zukünftige Laienmusiker übten früher wesentlich mehr
als heute. Sie verbrachten neben den mehrmals wöchentlichen Unterrichtsstunden
täglich zwei Stunden und mehr am Klavier. Dieses Faktum wird durch viele
Quellen bestätigt, zum Beispiel durch Quellen von Türk (1789, 11),
Köhler (1872, 250) und Lebert & Stark (1858).
Das ehemals sehr hohe spieltechnische Niveau wird daran deutlich, dass früher
Klavierspieler wesentlich mehr Fingerübungen und Etüden übten
als heute. Technische Übungen sollten nach Hüntens Meinung ein Drittel
der Übezeit ausfüllen, nach Czernys Meinung sogar die Hälfte
(Czerny 1839 II, 136; Hünten 1832, 22). Andere Quellen belegen eine Dreiteilung
der Übezeit in Fingerübungen, Etüden und Vortragsstücke.
Pianisten verwendeten früher somit oft fünf Stunden täglich
und mehr für technische Übungen. Auch angehende Laienmusiker übten
als Kinder täglich eine Stunde und mehr Fingerübungen und Etüden.
Von den vielen Quellen, die dies belegen (Gellrich 1992), hier nur eine: R.
Schumann schreibt in seinem Tagebuch am 18. Februar 1829, dass er die Fingerübungen
aus der Hummel-Klavierschule von sieben Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags
geübt habe.
Diese enormen Übezeiten des 19. Jahrhunderts und speziell die enormen
Übezeiten für technische Übungen sind für Pianisten von
heute unvorstellbar. Sie sind nur aus dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts zu
verstehen. Damals war es normal, Erwachsene und Kinder täglich zwölf
Stunden und mehr in Fabriken arbeiten zu lassen (Marx 1962). Auch war man
zu Zeiten des Frühkapitalismus von dem maschinellen Produzieren so fasziniert,
dass man auch menschliche Arbeit rigoros nach dem Vorbild des maschinellen
Produzierens organisierte (Marx 1962).
Wenn man die damaligen Übezeiten mit den heutigen Übezeiten vergleicht,
so muss man feststellen, dass Laienmusiker früher in etwa so gut Klavier
gespielt haben müssen wie heutzutage Berufsmusiker, zumindestens wenn
man den pianistischen Werdegang bis zum Eintritt des Musikstudiums be-rücksichtigt.
„Jugend-musiziert“-Teilnehmer beim Bundeswettbewerb ü-ben
nämlich heutzutage selten mehr als zwei Stunden pro Tag und haben zudem
nur noch eine Unterrichtsstunde pro Woche (Bastian 1989, 155f.). Heutige angehende
Berufsmusiker verbringen somit, wenn man die reduzierte Anzahl der Unterrichtsstunden
berücksichtigt, weniger Zeit pro Tag am Klavier als angehende Laienmusiker
im 19. Jahrhundert. Auch Berufspianisten spielten früher, wenn man die
Übezeiten zugrunde legt, ein gutes Stück besser als heute. Das extrem
hohe spieltechnische und musikalische Niveau des Klavierspiels im 19. Jahrhundert
kann man anhand historischer Aufnahmen aus den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts
erschließen (siehe auch Gellrich 1999). Wenn man solche Aufnahmen von
Pianisten, die das Klavierspiel noch im 19. Jahrhundert erlernten, anhört
zum Beispiel von E. d’Albert, R. Pugno, M. Rosenthal, L. Pouishnoff,
I. Friedmann, S. Rachmaninoff oder J. Lhévinne, so hat man immer das
Gefühl, dass sie auch beim Spiel der schwierigsten Werke immer noch große
technische Reserven haben und in der Lage sind, aus dem Stehgreif zusätzliche
Verzierungen und erschwerte Varianten einzufügen. Außerdem nehmen
sie bei geschwinden Stücken oft Tempi, die sich kein Pianist heute zu
nehmen getraut. Man höre in diesem Zusammenhang etwa Aufnahmen von L.
Pouishnoff, R. Pugno und J. Lhévinne. Ein weiteres Indiz für das
früher spieltechnisch höhere Niveau sind die alten Metronomzahlen
für Klavierstücke aus dem 19. Jahrhundert, speziell die Metronomzahlen
für Etüden beispiels-weise die Metronomzahlen in C. Czernys „Schule
des Virtuosen“. Die alten Metronomzahlen sind heute selbst für
Spitzenpianisten kaum noch realisierbar.
Bleibt noch die Frage offen, warum die Übezeiten im 20. Jahrhundert
so beträchtlich zurückgegangen sind. Grund war nicht nur die Ausbreitung
des öffentlichen Schulsystems, das heutzutage nicht mehr noch solche
Übezeiten wie im 19. Jahrhundert zulässt, sondern vor allen Dingen
auch eine Kampagne, die von Vertretern der „Neuen Schule des Klavierspiels“
zwischen den Jahren 1890 und 1930 geführt wurde. Um das Jahr 1900 traten
Klavierpädagogen wie zum Bespiel E. M. Breithaupt, L. Deppe oder M. Jaëll
auf den Plan, die großspurig verkündeten, dass das Klavierspiel
auf wesentlich einfacheren Wegen erlernbar sei als bisher. Sie behaupteten,
dass ein bis zwei Stunden täglichen Übens ausreichen würden,
wenn man nur die richtige, nämlich ihre Methode verwendete (zum Beispiel
Thilo 1900, 69; Breithaupt 1905/1906, 250). Längere Übezeiten wurden
nicht nur für nicht notwendig, sondern sogar als schädlich angesehen
(Jaëll 1901, 7). Vor allem wurden auch die Übezeiten von Klavieranfängern
beträchtlich reduziert. In den neuen Lehrbüchern wurden als Richtschnur
fünf bis dreißig Minuten täglich angegeben (zum Beispiel Jaëll
1901, 7). Diese Übezeiten sind seither speziell für Kinder und Jugendliche
in etwa gleich geblieben. Die neuen Propheten der Klavierpä-dagogik vertraten
insbesondere die Ansicht, dass jegliches technische, sportliche Training des
Spielapparats zwecklos sei. Der natürliche Organismus sei von sich aus
in der Lage, auch die schwierigsten pianistischen Probleme zu meistern. Aus
diesem Grunde wurde Klavierschülern das Spiel von Fingerübungen
und Etüden weitgehend untersagt.
Anfangs des 20. Jahrhundert tobte in der Klavierpädagogik ein Streit
zwischen den Verfechtern des alten und des neuen Wegs, bei dem sich die „Neuen“
zunächst nicht durchsetzen konnten. Zu offensichtlich war das mäßige
Niveau der nach der neuen Methode ausgebildeten Pianisten. Die neue Methode
des wenigen Übens konnte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg durchsetzen.
Niemand kon-nte es den jungen Pianisten verdenken, dass sie in Scharen zu
den neuen Propheten überliefen, versprachen sie doch in viel weniger
Übezeit das gleiche Ziel erreichen zu können wie die Verfechter
der alten Methode des vielstündigen Übens.
Es ist unmittelbar einleuchtend, dass das Niveau des Klavierspiels in beträchtlichem
Maße absank, als sich die neue Ideologie zwischen 1900 und 1930 allmählich
durchsetzte. Denn es macht ja einen beträchtlichen Unterschied, ob ein
Klavierspieler acht bis sechzehn Stunden oder maximal zwei Stunden täglich
übt, und es macht einen erheblichen Unterschied, je nachdem, ob ein Klavierspieler
pro Tag fünf Stunden und mehr der Ausbildung der Spieltechnik widmet
oder kaum noch oder keinerlei technische Übungen absolviert.
Literatur
Bastian, H.-G.: Leben für Musik.
Eine Biographie-Studie über musikalische (Hoch-)
Begabungen. Mainz 1989. Breithaupt, R. M.: Die natürliche Klaviertechnik,
2 Bde.. Leipzig 1905/1906. Czerny, C.: Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule
von dem ersten Anfange bis zur höchsten Ausbildung fortschreitend,
und mit allen nöthigen, zu diesem Zwecke eigends componirten zahlreichen
Beyspielen (Op. 500). Wien 1839. Gellrich, M.: Üben mit Lis(z)t. Frauenfeld 1992. Gellrich, M.: Der Verfall der Interpretationskunst. Staatliches
Institut für Musikforschung (Hg.): Jahrbuch des Staatlichen Instituts
für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1998. Stuttgart/Weimar
1999, S. 249 – 293. Gratia, L.-E.: L’étude du piano comment réaliser
un maximum de progrés a l’aide d’un minimum de travail.
Paris 1914. Hünten, F.: Méthode pour le Pianoforte. Paris
1832. Jaëll, M.: Der Anschlag. Neues Klavier-studium auf
physiologischer Grundlage, Bd. 1. Leipzig 1901. Köhler, L.: Systematische Lehrmethode für Clavierspiel
und Musik, erster Band: die Mechanik als Grundlage der Technik. Leipzig
1872 (2. Aufl.). Kontzki, A. D.: L’Indispensable du Pianiste. Leipzig
1851. Kullak, A.: Die Ästhetik des Klavierspiels, hrsg.
von W. Niemann. Leipzig 1922. Lebert, S. & Stark, L.: Theoretisch-praktische Klavierschule
für den systematischen Unterricht nach allen Richtungen des Klavierspiels,
vom ersten Anfang bis zur höchsten Ausbildung. Stuttgart 1858. Marx, K.: Das Kapital, Bd. 1. Berlin Ost (DDR) 1962. Músiol, R.: Klavier-Pädagogen: Louis Köhler.
Der Klavier-Lehrer, 1881, 4, S. 20 – 22. Müller, A. E.: Fortepiano-Schule, oder Anweisung zur
richtigen und geschmackvollen Spielart dieses Instruments nebst praktischen
Beyspielen und einem Anhang vom Generalbaß. Leipzig 1804. Nautsch, H.: Friedrich Kalkbrenner. Wirken und Werk. Hamburg
1983. Platinga, L.: Clementi, his life and music. London 1977. Thilo, A.: Ludwig Deppe in seiner Methode des Klavierunterrichts.
Der Klavier-Lehrer, 1900, 23, S. 153 - 155, 169 - 171. Türk, D. G.: Clavierschule, oder Anweisung zum Clavierspielen
für Lehrer und Lernende mit kritischen Anmerkungen. Leipzig 1789. Wohlfahrt, H.: Methodik des Klavier-Unterrichts zum Studium
für angehende Klavierlehrer. Leipzig 1876.