In der Mai-Ausgabe der nmz beklagte Max Nyffeler in seiner Kolumne
unter dem Titel „Wir Verlierer“ europäischen
Werteverlust – mit Seitenblicken auf Geoge W. Bush und John
Cage. Peter Niklas Wilson erwiderte in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift
„MusikTexte“ (kurzer Auszug): „Sollte Nyffeler
vergessen haben, dass sich die überkommene europäische
Musikästhetik mit ihrer Polarisierung zwischen Genie und
Normalsterblichen, zwischen Meisterwerk und bloßer Gebrauchsmusik
bestens mit so aufklärerischen Bewegungen wie Absolutismus
und Faschismus vertrug? Wollen wir wirklich ein neues Pantheon,
in dem dann aber auch bitteschön Nono und Lachenmann neben
Bach und Beethoven residieren, einen neuen Kanon, der den alten
um „La Fabbrica Illuminata“ und „Das Mädchen
mit den Schwefelhölzern“ ergänzt? Der uns endlich
wieder verbindlich sagt, was große Musik mit ganz großem
G ist – und was nicht?“ Nikolaus Brass antwortete
darauf (leicht gekürzt).
Eine Kontroverse hat sich entzündet, die mit Polemik nicht
geizt und offenbar gleich mehrere wunde Punkte berührt. Max
Nyffeler hat in seiner Beckmesser-Kolumne in der Mai-Ausgabe der
nmz („Wir Verlierer“) auf ein geistiges Vakuum hingewiesen,
das sich unter anderem durch die Auflösung des tradierten Werkbegriffs
in der zeitgenössischen Kunst freisetzte und gekennzeichnet
ist durch Negation der Transzendenz und Verlust des Kanons. Nyffeler
hat dieses Vakuum in Verbindung gebracht mit gegenwärtigen
Diskussionen um „europäische Schwäche“ gegen
„amerikanische Stärke“.
Wo aber Gefahr für unser Selbstverständnis als „Fortschrittliche“
droht, da wächst offenbar die rettende kritische Theorie auch:
Peter Niklas Wilson sieht in seiner Entgegnung im Maiheft der Musik
Texte (Radical Chic, revisited) wenn nicht gleich den Faschismusgestank,
so doch den „kulturkonservativen Muff von mehr als tausend
Jahren“, und fragt empört: „Wenn Nyffeler schon
so die Negation der Transzendenz in der Kunst und den Verlust des
Kanons bejammert – wollen wir dann beides wirklich zurückhaben?“
Ich möchte im folgenden nur auf das Rhetorische dieser Frage
eingehen, weil dieser Tonfall mir das Charakteristischste an der
ganzen Debatte scheint. Denn das Rhetorische an der Frage impliziert,
dass offenbar alle halbwegs Vernünftigen Transzendenz und Kanon
nicht zurückhaben wollen, schon gar nicht in der Kunst, und
dass die Frage doch schon „erledigt“ sei. Für mich
weist das Rhetorische an der Frage aber auf eine uneingestandene
Unsicherheit hin, ob denn wirklich alles „erledigt“
ist, ob Nyffeler durch sein Stöbern in der vermeintlichen Mottenkiste
nicht doch auf eine unliebsame Wahrheit gestoßen sein könnte:
Ist die Feier des Ephemeren, der Karneval der Stunde, das sich selbst
erfüllende Konzept, die Überantwortung der künstlerischen
Entscheidung an Computer, Zufall, I Ging und die Würfel, sind
alle diese „kritischen“ Verfahren und aller intelligenter
Konzeptualismus nicht doch nur Zeichen einer grandiosen Impotenz?
Die Gereiztheit, die sich breit macht, wenn – horribile
dictu „Leute aus dem eigenen Lager“ – „kritische“
Positionen kritisieren und der Reflex: „Was ist denn mit dem
los?“ weisen auf eine erstaunliche Schwäche hin, sich
mit der Kritik der Kritik auseinander zu setzen. Die Heftigkeit,
mit der reagiert wird, stellt man die „Entsorgung“ der
alten Probleme wie Transzendenz und Geschichtlichkeit alles Gewordenen
in Frage, erinnert verblüffend an die Heftigkeit, mit der sonst
andere „Entsorgungsunternehmen“ reagieren, wenn unbotmäßig
auf ein kleines Restrisiko ihrer Entsorgungsaktivitäten hingewiesen
wird. Die Frage ist: Wessen hat man sich entledigt, wenn man sich
des „Werkes“ entledigt hat? Welches „Risiko“
geht man dabei ein?
Ich behaupte: weil wir uns wohlfeil eingerichtet haben im Sekundären.
Weil wir in der Kritik nur noch „Dienstleistungen des Durchschauens
und Misstrauens“ (Botho Strauß) erwarten, weil wir so
wunderbar politisch korrekt sein wollen und weil es von uns erwartet
wird, Begriffe wie „Schöpfung“, „Schöpfer“,
„Werk“, „Autor“ nur mit dem Ziel der Auflösung
zu hinterfragen und unter einen sehr viel stärkeren Rechtfertigungsdruck
zu stellen als beispielsweise Begriffe wie „Erfindung“,
„Konzept“. Warum muss „Machen“ sich sehr
viel seltener in Frage stellen lassen als „Hervorbringen“?
Warum wird die Frage nach der schöpferischen Erfahrung gar
nicht mehr zugelassen? Und warum wird über dieses Nicht-mehr-Zulassen
so wenig nachgedacht? Offenbar geht es hier um eine stillschweigende
„Sprachregelung“, um eine sublime Be- und Entwertung
spezifischer individueller Erfahrung durch „neue“, schon
weit verinnerlichte gesellschaftliche Normen. Lehrmeinung ist, dass
das Verschwinden der Schöpferpersönlichkeit einen unumkehrbaren
Prozess der auf Egalität zielenden gesellschaftlichen Emanzipation
reflektiert.
Einlass in die ästhetische Debatte, so scheint es, erhält
nur der, der vorher eine Erklärbarkeitsverpflichtung unterzeichnet
hat: Im ästhetischen Diskurs gibt es keine dunklen Punkte mehr,
was Dunkel scheint, ist zu entsorgen! Hierarchie, vertikale Ausrichtung
des Kunstwerks, a-rationale Logik lebendiger Strukturen, undurchdringlicher
Nimbus des Schöpferischen: alles kompatibel mit nicht-aufgeklärten,
absolutistischen und gar faschistischen Systemen, also weg damit!
Für die Kritik darf es nichts Unverfügbares mehr geben!
Aber was ist im Zuge des großen dekonstruktivistischen Reinemachens
unter der Hand geschehen? Was passiert, wenn wir der Kunst alles
Unverfügbare absprechen und entziehen?
Mir ist bewusst, dass man schnell in schlechte Gesellschaft geraten
kann, stellt man diese Fragen. Aber für mich steht die Entleerung
der Kunst von aller „vertikalen Ausrichtung“ (Steiner)
in Zusammenhang mit totalitären Tendenzen des sich jetzt voll
entfaltenden Erfahrungs-Kapitalismus, der die individuelle Psyche
nicht mehr durch die Sucht nach Waren besetzt, sondern durch die
Erfindung und Vermarktung von industriell hergestellten Erfahrungswelten.
Dazu bedurfte es zuerst der medialen Entkernung des Individuums
von aller eigenen Erfahrung, dazu gehört auch die Um- und Abwertung
bestimmter Erfahrungsweisen durch den intellektuellen Diskurs. Das
Totalitäre herrscht und manifestiert sich heute (bei uns) nicht
mehr (so sehr) durch autoritäre Strukturen, sondern es etabliert
sich wie von selbst als das medial hergestellte und kontrollierte
unbewusste Einverständnis der Individuen, sich nur noch bestimmten,
durch die allgemeine Meinung kodifizierten Erfahrungen auszusetzen,
bestimmte Erfahrungen zuzulassen, und diese als die eigenen auszugeben
und andere zu entwerten und zu verwerfen.
Unversehens hat der Prozess, der das Individuum von den „Schlacken
seiner Unmündigkeit“ befreien sollte, das heißt,
es von seinen familiären, sozialen, ethnischen und religiösen
Bindungen löste, den neuen Typ des Schicksallosen hervorgebracht,
geboren ist ein seines Schicksals entledigtes Subjekt, geschaffen
die geschichts- und erfahrungslose menschliche Stanzform. Kunst
war wohl immer ein Medium, sich seines Schicksals bewusst zu werden.
Insofern ist „schicksallose“ Kunst heute der wahrhaftige
Spiegel unserer Verhältnisse. Aber wollen wir nur den Spiegel
in der Kunst oder nicht doch auch den Wegweiser? (Rhetorische Frage!)