[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/05 | Seite 11
52. Jahrgang | Mai
www.beckmesser.de
Wir Verlierer
Der Präventivkrieg im Irak ist erwartungsgemäß
gewonnen und wir auf den europäischen Zuschauerbänken
fragen uns, wie es wohl weiter geht. Vermutlich kommt nach Saddam
nun auch Gomorrha über den Nahen Osten. Während der Herr
der amerikanischen Computerarmee, vor Wochen noch ein gelbgesichtiger
Hassprediger, fürs Fernsehen wieder den weisen Staatsmann mimt,
entdecken seine Strategen bereits neuen Gestaltungsspielraum in
der Region. The games must go on. Wir danken für Ihr Verständnis.
Es ist diese selbstverständliche, mit klarem Siegeswillen
gepaarte Aggressivität einer kraftstrotzenden Nation, die uns
Europäer heute zusammenzucken lässt, und weniger vielleicht
die Sorge um irgendein abstraktes weltpolitisches Gleichgewicht
– von den Opfern, die als sogenannte Kollateralschäden
in die Protokolle eingehen, jetzt einmal zu schweigen. Die Europäer,
Opfer und Täter, haben erfahren, was rücksichtslose Machtpolitik
bedeutet, und ihre Lehren daraus gezogen.
In dem vom Zweiten Weltkrieg geschwächten Europa hat sich
ein Wertewandel vollzogen, der konträr zum Wertesystem der
expandierenden Hegemonialmacht USA steht. Die Kontinentaleuropäer
haben genug vom Krieg, denn er hat ihnen Unheil gebracht und sie
weltpolitisch kastriert. Demgegenüber kennt die US-amerikanische
Bevölkerung, freundlich angeleitet von der Medienindustrie,
in ihrer großen Mehrheit da offensichtlich keine Skrupel.
Sie sieht im Präventivkrieg eine Problemlösung und glaubt
an seinen Nutzen für das Land. Die geistige Kluft zwischen
Neuer und Alter Welt ist tief, keine Hündchenposen europäischer
Politiker/-innen können davon ablenken.
Doch die Unterschiede sind ja nicht neu. Sie haben historische
Wurzeln, die uns vielleicht erst jetzt, dank der brutalen Lehren
der jüngsten Vergangenheit, richtig bewusst werden. „Danke,
Mr. Bush“ – die sarkastische Schlagzeile in einer Berliner
Tageszeitung beim Einmarsch in den Irak meinte genau diesen Lernprozess.
Doch es gibt auch subtile Analysen der lange verschleierten kulturellen
Differenz. Der englische Literaturwissenschaftler George Steiner,
ein Humanist alten Schlages, hat in seinem Buch „Von realer
Gegenwart“ schon um 1990 auf bemerkenswert klare und leidenschaftslose
Art die beiden Mentalitäten miteinander verglichen:
„Zwei grundlegende Impulse speisen den amerikanischen Geist
mit Energie: Immanenz und Egalitarismus. Der ausschlaggebende Aspekt
amerikanischer Zeit ist das Jetzt. Auf die Vergangenheit kommt es
nur in direktem Bezug zu ihrer Verwendbarkeit in der Gegenwart und
durch die Gegenwart an. Amerikanische Sensibilität neigt dazu,
Erinnerungen nicht in Historizität zu investieren, sondern
in Utopia. Transzendenz selbst wird zu pragmatischen Zwecken umgemünzt;
die Definition des Morgen ist die einer empirischen Verwirklichung
tatsächlicher Träume. Keine andere Kultur hat dem Immanenten
so viel Würde zuerkannt.“
Nach dieser Charakterisierung des amerikanischen Zeitbewusstseins
kommt Steiner auf die Rolle der kulturellen Überlieferung in
diesem Weltbild zu sprechen: „Zugleich sucht der Egalitarismus
das Überragende zu domestizieren. Der europäische Kanon
ist einer vertikalen Ordnung verpflichtet, weist den Produkten des
Intellekts und des Gefühls verschiedene Ränge zu. Sein
Vorgehen ist das der Ausschließung. Der Parnass, das Pantheon
offiziellen Ruhms, die zum Wesen der europäischen Geisteswissenschaften
gehören, sind amerikanischem Empfinden suspekt. Der amerikanische
Geist würde auch die Ewigkeit demokratisieren. Daraus folgt,
dass zeitgenössische Kunst, Literatur, Musik und Tanz in den
hermeneutisch-kritischen Aufgabengebieten der Akademie volle Bürgerrechte
genießen. Die Demarkationslinien zwischen dem Akademischen
und dem Journalistischen, zwischen Zeitlosigkeit und dem Alltäglichen,
zwischen auctoritas, die von der Souveränität des im Kanon
festgeschriebenen Vorangegangenen kündet, und dem Experimentellen
und Ephemeren sind verwischt.“
Utilitarismus gegen Transzendenz, Gleichheit gegen geistige Rangordnung,
verwischte Grenzen zwischen so unverträglichen Kategorien wie
Experiment und Kanon – die Problematik ist bekannt und unter
dem Signum der Demokratie auch bei uns längst zur Alltagserfahrung
geworden. Mit dem Unterschied, dass in den USA die geistigen Disziplinen
des „Alten Europa“ in hoch dotierten, wenn auch gesellschaftlich
isolierten Denkfabriken auf hohem Niveau weiter gepflegt werden,
während sie hier zu Lande von linken Bildungsreformern zum
Ballast erklärt werden. Viele derjenigen, die sich heute besonders
antiamerikanisch gebärden, sind im schlechten Sinn stärker
amerikanisiert, als sie denken.
Und noch etwas anderes lässt sich daraus ableiten. Die in
der alten Bundesrepublik als Symbol neu gewonnener Freiheit praktizierte
Demontage der tradierten Werte – ein Handlungsaxiom der fortschrittsorientierten
Avantgarde – hat genau denjenigen Tendenzen den Weg bereitet,
die zur Situation führten, die wir jetzt als „Schwäche
Europas“, als „amerikanische Arroganz“ und so
weiter bejammern.
Dass nach dem Zusammenbruch der europäischen Werte im dümmsten
aller Kriege die Ideologie der wichtigsten Siegermacht sich auf
der ganzen Linie durchsetzte, war nicht zu vermeiden. Wir haben
unser Erbe weitgehend verspielt und hängen nun am Tropf der
US-amerikanischen Alltagskultur und ihrer Medien. Insofern hat Rumsfelds
Häme über die aufmuckenden Lakaien des „Alten Europa“
eine reale Basis. Jahrzehntelang betrieben wir unter dem Etikett
des Fortschritts auch in der Musik begeistert, was Steiner mit „Demokratisierung
der Ewigkeit“ und als Siegeszug des Ephemeren umschreibt:
Die Negation von Transzendenz im Kunstwerk und die Zerstörung
des Kanons – Eigenschaften, die den europäischen Werkbegriff
wesentlich bestimmen. Das große Vorbild dabei war ein amerikanischer
Künstler, der jede innere Geschichtlichkeit und strukturelle
Ordnung im musikalischen Werk als Ausdruck von Herrschaft bekämpfte
und dabei nachhaltig Erfolg hatte: John Cage. Was er mit dem unschuldigen
Eifer des künstlerischen Phantasten predigte, setzte sich in
unseren Köpfen dauerhaft fest. Die Ernte wird jetzt vom Realpolitiker
Bush quasi nebenher eingefahren. Wer füllt das Vakuum?