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nmz-archiv
nmz 2003/10 | Seite 44
52. Jahrgang | Oktober
Nachschlag
Dr. Murke und Mister Smith
Unmöglich, konterte ein Radio-Kollege unlängst, als
ich vorschlug, in einer meiner Sendungen Solo-Aufnahmen des Trompeters
und Multiinstrumentalisten Leo Smith vorzustellen. Wir stoppten
die Aufnahmen. Mittendrin, zwischen den hingehauchten Tönen
und den sparsamen Perkussionsklängen gab es immer wieder sekunden-,
ja minutenlange Stille. Das geht nicht, meinte der Kollege, bei
solcher Musik segelt uns am Ende noch der Sender ab. Pause oder
Stille, das ist hier die Frage. Früher gab es für die
Pausen das Pausenzeichen. Heute wird – die Servicewellen haben
es vorgemacht – im Regelfall alles dicht aneinander gefahren.
Stille als Ausnahmezustand in einer mit Musik, mit vorproduzierter
Berieselung, akustisch tapezierten Umwelt. In der Stimme des Kollegen
begann sich Angst zu spiegeln. Bei längerer Stille im Sendeablauf
könnte sich ein Alarmaggregat einschalten. Hörer X könnte
aus lauter Unverständnis die Kaffeetasse aus der Hand fallen,
Hörerin Y hätte Anlass, an der Existenz des Senders, ja
schließlich gar an der Existenz der öffentlich-rechtlichen
Ordnung zu zweifeln. Stille als Bedrohung, als unerhörte Provokation.
Dr. Murke, murmelte ich beiläufig. Und das verstand nur die
der Szene beiwohnende Technikerin, Nachkriegsgeneration, aufgewachsen
mit den frühen Erzählungen von Heinrich Böll. In
Bölls Text „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen”
schneidet ein Radio-Mann Schweigen aus den für Sendungen aufgezeichneten
Vorträgen, um dann diese ereignislosen Bandschnipsel aneinander
zu reihen und sich daran zu ergötzen. „Ach Rina”,
sagt der von den Spätdiensten genervte Held in Bölls Geschichte
zu seiner Freundin, „wenn du wüsstest, wie kostbar mir
dein Schweigen ist. Abends, wenn ich hier sitzen muss, lasse ich
mir dein Schweigen ablaufen.” Und er fleht Rina an, ihm drei
Minuten Band zu beschweigen.
Beschweigen, dieser glänzende Neologismus Heinrich Bölls,
scheint in Zeiten omnipräsenter Beschallung obsolet geworden
zu sein. Die Abwesenheit von Wort, Klang oder Geräusch erzeugt
nachgerade Unsicherheiten, wenn nicht gar Angstzustände. Das
dramaturgische Mittel der Pause droht aus dem Bewusstsein zu entschwinden.
Schweigen gilt in einer vom Aktionismus besetzten Zeit als Zeichen
der Unterlegenheit. Die Zen-Weisheiten und die Reflexionen von John
Cage über das Nicht-Gesagte, das Nicht-Komponierte haben wenig
Chancen, gehört zu werden. Stille als Bewusstseinszustand oder
als Nicht-Bewusstsein lässt sich in einem von Zweckrationalität
geregelten Alltag kaum mehr unterbringen.
Leo Smith spricht in seinen Abhandlungen zur Musik vom kreativen
Improvisator, von der kreativen Improvisatorin im Zusammenhang mit
der spontanen Organisation von Klang, Stille und Rhythmus. Und Smith
weiterdenkend könnte man folgern: Nachdem sich die Beschäftigung
mit Musik im Medienzeitalter mehr und mehr von der eigenen Spielpraxis
auf die Rezeption verlagert hat, wäre – wie für
den Musizierenden – auch in der Wahrnehmung der ständig
verfügbaren Schallquellen eben das neu zu lernen: den kreativen
Umgang mit Klang, Stille und Rhythmus. Erst die Befreiung vom Druck,
Klang permanent wahrzunehmen, weist in die Räume, wieder verantwortungsbewusst
mit diesem umzugehen. Über die Youngsters mit ihren Techno-Sounds
im Walkman die Nase zu rümpfen, erscheint billig. Einige von
ihnen suchen wohl in der Phon-Ekstase eine akustische Gegenwelt
zur Allgegenwart eines emotionslosen Mezzoforte. Die zunehmende
Verdichtung und Verstärkung von Sounds gerät nahe an ihr
Gegenteil, die Stille, ermangelt jedoch deren Qualität.
Wohin, fragte ich den Kollegen, soll etwas nachklingen, wenn es
keine Stille mehr gibt? Welche Verarmung droht uns, wenn jeder etwas
besprechen und keiner mehr etwas beschweigen kann? Wird das Stück
4’33” von John Cage, Tacet für jedes beliebige
Instrument oder jede beliebige Kombination von Instrumenten, nur
noch als Skurrilität wahrgenommen? Oder könnte es sein,
dass wir dereinst in Music-Boxen Geld einwerfen, um nichts zu hören?
Und wir wissen doch, nicht erst seit John Cage, dass es nie nichts
zu hören gibt, dass die ereignislose Leere eine Fiktion ist.
Den Frequenzen des eigenen Herzschlags und denen unserer höheren
Nerventätigkeit können wir auch im stillen Schweigen nicht
entgehen. Vielleicht gut, dass ich die Stücke von Leo Smith
nicht an einem Platz gesendet habe, wo sie sich versendet hätten.
Ich bin mit ihrem Klang, ihrer Stille und ihrem Rhythmus im Kopf
(und ohne Kopfhörer) im Berufsverkehr von Halle nach Leipzig
gefahren.