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nmz-archiv
nmz 2003/11 | Seite 36-37
52. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Auferstehen in der alten Mitte Europas
Warschauer Herbst, kulturpolitischer Austausch und Konzerte
Es wird mittlerweile zu guten Tradition: Während des Warschauer
Herbstes, dem immer noch größten internationalen Festival
für Neue Musik im ehemaligen Ostblock, trifft sich der Deutsche
Musikrat mit Vertretern polnischer Musikorganisationen und weiteren
Gästen verschiedener Länder, um sich über Zusammenarbeit
und europäische Integration auszutauschen. Ziel ist es, gemeinsame
Projekte in die Wege zu leiten und letztlich das Zusammenwachsen
Europas auf musikkultureller Basis voranzutreiben. Dass ein durch
vielerlei Schwierigkeiten gegangener und nun neu formierter Deutscher
Musikrat (der frisch ernannte Präsident Martin Maria Krüger
war ebenso zugegen wie der neue Vizepräsident Uli Kostenbader)
unbeirrt dieses Ziel verfolgt, mag unterstreichen, welche Priorität
diesem Austausch beigemessen wird. Beim jetzigen dritten Treffen
entstand nun vielleicht zum ersten Mal nachhaltig der Eindruck,
dass die Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen konkrete Gestalt
annehmen.
Bei Proben der Polnisch-deutschen
Klangwerkstatt. Foto: Deutscher Musikrat
Verschiedene Ebenen, das heißt, dass man sich sowohl darüber
verständigte, wie Stellenwert, Rolle und Funktion der Musik
gegenüber der EG in Brüssel vertreten werden sollen, dass
man sich in Sachen der Rechteverwertung von Autoren näher kam,
aber auch, dass direkte musikalische Projekte vor Ort realisiert
oder für die nächsten Jahre ins Auge gefasst wurden. Von
polnischer Seite (Jeremi Sadowski vom Polnischen Rat der Europäischen
Bewegung) wurde darüber hinaus noch ein vom Musikrat unterstützter
Aufruf an den Europäischen Rat eingebracht, Kultur und Erziehung
nachdrücklich als entscheidende Kraft (als „vierte Säule"
innerhalb eines inzwischen andere Begriffe heranziehenden Säulenmodells)
der europäischen Integration miteinzubeziehen. Man will Vorstöße
und Petitionen dieser Art in nächster Zeit bündeln und
auf eine einheitliche Plattform stellen (siehe
auch Text von Frank Kämpfer dieser Seite).
Vielleicht zum ersten Mal hatte man dieses Jahr den Eindruck,
dass Dinge effektiv in Bewegung geraten – denn Bedenken, gar
Ängste sind zäh und bedürfen kontinuierlicher, nicht
zuletzt fortgesetzt vertrauensbildender Arbeit. Auch Vereinbarungen
unter Organisatoren (wie polnische Komponisten bei den Darmstädter
Ferienkursen oder Dreiecksbeteiligungen zwischen Warschauer Herbst,
dem Berliner UltraSchall-Festival und den österreichischen
Klangspuren Schwaz) wurden für 2004 und 2005 getroffen.
Ein Modell dafür gab es schon dieses Jahr: das Ensemble der
Polnisch-Deutschen Werkstatt für Neue Musik. Hier waren zirka
20 junge Musiker aus Polen und Deutschland zusammen gekommen, um
unter der Leitung von Rüdiger Bohn von der Zeitgenössischen
Oper in Berlin ein Konzert für den Warschauer Herbst zu erarbeiten.
Es wurde zu einem der Höhepunkte des ganzen Festivals. Die
jungen Instrumentalisten hatten Werke von Bettina Skrzypczak und
der 25-jährigen Aleksandra Gryka, von Pierre Boulez, Annette
Schlünz und Helmut Lachenmann erarbeitet. Dessen „Mouvement
– vor der Erstarrung“ zählt fraglos zu den anspruchsvollsten
Partituren der Moderne.
Dass die Aufführung nicht nur gelang, sondern dass sie außerordentlich
spannend geriet, lässt vieles hoffen. Europäisches Zusammenkommen,
man mag „oben“ Goodwill-Vereinbarungen treffen so viel
man mag, erfährt nur Substanz und Leben, wenn es sich auf der
Basis real vollzieht. Diese Basis wurde noch durch das Publikum
erweitert. Im ausverkauften großen Lutoslawski-Konzert-Studio
war wie übrigens auch sonst bei den Konzerten des Warschauer
Herbstes zu einem Großteil junges Publikum versammelt, das
reges Interesse (und viel Sachverstand) bewies. Das erfolgreiche
Auftreten des Deutschen Musikrats beim diesjährigen Warschauer
Herbst wurde durch ein weiteres Konzert am Finaltag abgerundet:
Das in Köln ansässige Ensemble „Musikfabrik“
bot in gewohnter Souveränität Werke von Hans Zender, Helmut
Zapf, Karin Haußmann, Klaus-Hinrich Stahmer – gewissermaßen
als Spektrum gegenwärtigen deutschen Komponierens – und
dazu als Uraufführung ein Sound-Video-Werk des jungen Polen
Jaroslaw Mamczarski. Man will von Seiten des Deutschen Musikrats
auf dieser Basis weiterarbeiten. Die Wichtigkeit solch gegenseitiger
Unterstützung wird beim Warschauer Herbst immer wieder offenbar.
Tadeusz Wielecki, der Leiter des Warschauer Herbs-tes, wirkt manchmal
so, als ob er am liebsten alles hinschmeißen würde. „Da
planst du ein Konzert, bekommst finanzielle Zusangen. Und wenige
Wochen vor dem Konzert teilt man dir mit, dass die Gelder leider
doch nicht kommen“, klagt er. Schadensbegrenzung wird nun
betrieben: Als halbwegs glimpflich betrachtet es Wielecki, wenn
der Ausfall vor der Öffentlichkeit noch verborgen bleiben kann,
also wenn das Konzert noch nicht auf Plakaten gedruckt ist. Das
ist freilich kein schöner Zustand. Wenn man dann aber ein in
sich rundes und packendes Konzert erleben konnte, dann strahlt Wielecki,
als ob er nichts lieber täte, als den Warschauer Herbst zu
organisieren.
Mit Mängeln dieser Art umzugehen, ist in Polen immer noch
eine Selbstverständlichkeit. Warschau als Drehscheibe Europas
(„genau in der Mitte zwischen Moskau und Paris“), das
sieht heute anders aus als in den glänzenden Zeiten des Warschauer
Herbstes, wo man im reglementierten realsozialistischen Umfeld wie
ein Guckloch zu künstlerischen Ansätzen des europäischen
Westens und der USA wirkte und die kreativen Kräfte des Ostens
magnetisch anzog. Drehscheibe ist man geblieben, sie definiert sich
heute aber anders.
ulturorganisationen vor allem aus westlichen Ländern bieten,
nicht zuletzt im Hinblick auf den EG-Beitritt Polens im nächsten
Jahr und im Sinne europäischer Integration, Projekte an. Aus
dieser Angebotspalette heraus lebt der Warschauer Herbst, er ist
wie eine Party, wo jeder etwas zu essen oder zu trinken mitbringt,
worauf man gemeinsam feiert. Die Stimmung hierfür ist gut (auf
das vorwiegend jugendliche Publikum wurde schon hingewiesen), die
Programme freilich müssen auf diese Weise weitgehend unkoordiniert
bleiben, sie hängen von den „Geberländern“
ab, an die von Veranstalterseite einzig der Wunsch herangetragen
wird, ein neues Stück eines jüngeren polnischen Komponisten
in die Abfolge zu integrieren (und Polen, das vermittelten die Konzerte
nachhaltig, besitzt eine Fülle hoffnungsvoller junger Komponisten,
denen freilich ein eher spärliches Angebot an in Neuer Musik
erfahrenen Ensembles gegenübersteht). Die Fallhöhe ist
naturgemäß hoch, von gesamtprogrammatischer Fokussierung
kann keine Rede sein. In diesem Jahr hatten neben Deutschland Italien,
Österreich, die Niederlande, Slowenien, Belgien, Frankreich
und Kulturstiftungen der USA (man spürt Donald Rumsfelds Hinweis
auf das „Neue Europa“) Beiträge geliefert. Der
Warschauer Herbst entwickelt sich so zum Aufriss der internationalen
Szene Neuer Musik und nicht zuletzt auch von ihren ästhetischen
Prämissen und Schwerpunktsetzungen.
Hier ist weiterzudenken. Ein entgrenztes Europa – ein wirklich
entgrenztes Europa – hätte Potenzen, die ein national
vereinzeltes nicht zu entwickeln vermag. Vielleicht liegt in solchen
Keimzellen einmal die Idee eines europischen Ensembles für
Neue Musik begründet, das durch exorbitante Qualität und
faszinierende Projekte Anreize für weit gestreute Aktivitäten
„vor Ort“ schafft. Dass solche Botschaften gerade von
Warschau ausgehen, also dem wohl am meisten von europäischer
Geschichte betroffenen und geschundenen Ort, mag man als Chance
verstehen.
Zwei weitere Ereignisse wären aus der Fälle der manchmal
auch recht enttäuschenden Konzerte (wozu auch die Uraufführung
von Wolfgang Rihms dünn spätromantischem „Gesangsstück“
mit dem amerikanischen Walter Verdehr-Trio zählte) hervorzuheben.
Beide hatten, vielleicht auch dies ein Zeichen, mit Tod und Auferstehung
zu tun. Da war das Pariser Ensemble Court-Circuit unter Pierre-André
Valade, das zusammen mit der deutschen Sopranistin Sylvia Nopper
die „Quatre chants pour franchir le seuil“ des 52-jährig
verstorbenen Gérard Grisey aufführte. Es ist sein letztes
Werk (1997–98), es ist ein Manifest menschlicher Vergänglichkeit
und sich immerfort erneuernder Energien: Klang, der mit frenetischer
Besessenheit zu Tiefe und Schönheit als untrennbarer Einheit
vordringt. Das Publikum erhob sich aus Ehrfurcht vor dem Werk (und
vor der grandiosen Gestaltung) applaudierend von den Sitzen, der
Schlussteil musste wiederholt werden. Ähnliche Anerkennung
wurde dann beim Abschlusskonzert Sofia Gubaidulinas Johannes-Passion
zuteil. Sparsam in den Mitteln, enigmatisch in der Klangfindung,
wurde Hoffnung im Leid offenbar. Hiermit setzte der Warschauer Herbst
ein Zeichen: nicht zuletzt auch für sich selbst.