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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 25
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Arbeitskreis
Musik in der Jugend
Wurzeln, Stationen und Ausblicke
Ein Bericht von den ersten „Tagen der Neuen Chormusik“
in Aschaffenburg
Die ersten „Tage der Neuen Chormusik“ in Aschaffenburg
sind erfolgreich über die Bühne gegangen. Der Arbeitskreis
Musik in der Jugend, die Stadt Aschaffenburg und das Internationale
Chorforum konnten mit etwa 100 Teilnehmern aus der Bundesrepublik
und vielen örtlichen Konzertbesuchern eine gute Resonanz verbuchen.
Ines Stricker hat sich einen Eindruck von den „Tagen der Neuen
Chormusik“ verschafft.
Der Kleine Saal in der Aschaffenburger Stadthalle ist gut besucht:
Zirka 100 Chorleiter aus der ganzen Bundesrepublik haben sich in
Aschaffenburg zu den ersten „Tagen der Neuen Chormusik“
eingefunden. Viele waren schon beim Eröffnungskonzert mit dem
SWR-Vokalensemble in der Stiftskirche am Abend zuvor, jetzt steht
der Einführungsvortrag „Die Neue Chormusik – Wurzeln,
Stationen, Ausblicke“ des Stuttgarter Musikwissenschaftlers,
Chorkomponisten und -dirigenten Clytus Gottwald auf dem Programm.
Gottwald informiert und unterhält seine Zuhörer mit Anekdoten
und Ausführungen über das Verhältnis zwischen Chormusik
und zeitgenössischer Szene, das bis zum Jahr 1918 ein absolut
selbstverständliches war. Chormusik war eine eigenständige
Form des Musikmachens, die sich entschieden von der Instrumentalmusik
distanzierte. Erst im 20. Jahrhundert umgab den Chorgesang ein Geruch
reaktionärer Vereinsmeierei, gegen den sich viele Komponisten
wie Schnebel, Holliger und Lachenmann in der Zeit nach 1950 wehrten.
Hemmschwellen abbauen
Trotzdem: Abgesehen von Berufschören, einigen Spezialensembles
und sonstigen ambitionierten Chören (von denen einige in Aschaffenburg
auftraten) ist der Anteil an moderner und zeitgenössischer
Musik in der deutschen Chorszene mit ihren etwa 60.000 größeren
und kleineren Ensembles, ihren Sängerbünden und Vereinen
gegenwärtig immer noch viel zu niedrig. Und in der Öffentlichkeit
wird Chormusik ohnehin nur am Rande wahrgenommen. Ein Grund für
den AMJ der Basis, also den vielen Schul-, Kirchen- und sonstigen
Chorleitern, neben hochkarätigen Konzerten auch ein pädagogisches
Rahmenprogramm mit Vorträgen und Workshops anzubieten, das
Hemmschwellen in Bezug aufs neue und zeitgenössische Musik
abbauen soll.
Auch wenn das geplante Highlight, ein Interpretations- und Dirigierkurs
mit Manfred Schreier, krankheitsbedingt entfallen musste: Es gibt
in Aschaffenburg Stoff genug für Auseinandersetzung. Erst einmal
in der reinen Anschauung, also den öffentlichen Proben der
an den Konzerten beteiligten Chöre: Neben dem auf neue Musik
spezialisierten via-nova-chor München unter Kurt Suttner sind
es der von Gudrun Schröfel geleitete Mädchenchor Hannover,
Wolfgang Seeligers Konzertchor Darmstadt und die SCHOLA Heidelberg
unter Leitung von Walter Nußbaum mit einem avantgardistischen
Repertoire.
Aber am meisten lernt man doch in den praxisorientierten Veranstaltungen.
Besonders gelungen sind vom Konzept her die so genannten Reading-Sessions
für verschiedene Besetzungen wie Kinder- und Schulchor, gemischten
Chor, Frauenchor und Populärchor: Hier tragen kleine Ensembles
Auszüge aus Werken des 20. und 21. Jahrhunderts vor, die Teilnehmer
lesen im vorher ausgeteiltem Notenmaterial mit, zum Teil singen
sie auch einige Werke an. Burkhard Kinzler, Chorleiter und Komponist,
der in der Reading-Session für gemischten Chor ein Repertoire
von Ives und Schönberg bis hin zu Werken mit Rap-Elementen
vorgestellt hat, ist von dem pädagogischen Ansatz überzeugt:
„Was man nicht kennt, studiert man nicht von selber; deswegen
ist es ganz besonders wichtig, dass es sich zunächst mal an
Chorleiter richtet.“ Und Werner Glöggler, Gymnasiallehrer
und Referent der Reading-Session für Kinder- und Schulchor,
ergänzt, wenn auch zugegebenermaßen provokativ: „Ich
hab das Gefühl, dass es häufig die Chorleiter sind, die
eine gewisse Ablehnung schon von vorneherein mitbringen, die das
Risiko nicht eingehen wollen.“
Notation im Wandel
Die Aschaffenburger Teilnehmer kann Glöggler allerdings nicht
gemeint haben, denn die zeigen sich äußerst interessiert.
Beispielsweise beim Vortrag „Neue Formen der Notation in zeitgenössischer
Chormusik“ des Düsseldorfer Chorleiters und Hochschulprofessors
Raimund Wippermann. Der stellt anhand von Noten- und Klangbeispielen
dar, inwiefern sich die Notation von Chormusik seit den 1960er-Jahren
an die stimmlichen Experimente und Erfordernisse der damals entstehenden
Werke anpasste (eine Sache der Gewöhnung, teilweise fällt
es schwer, dem Musikverlauf zu folgen) und lässt schon einmal
die Zuhörer aus der an die Wand projizierten graphischen Notation
einen Cluster singen.
Aber trotzdem ist es nicht immer leicht, für den eigenen
Chor angemessene, das heißt singbare Literatur zu finden.
Der AMJ regt daher auch die Zusammenarbeit von Komponisten und Chören
an und hat in seine ersten „Tage der Neuen Chormusik“
in Aschaffenburg das seit 1996 bestehende Projekt „Komponistinnen
und Komponisten schreiben für Kinder- und Jugendchöre“
integriert. Vier junge Chöre singen im Aschaffenburger Stadttheater
Werke, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Thomas
Gabriels eher unterhaltungsmäßig angehauchtem Werk „Die
Länder der Sterne“ auf einen Text von Hugo von Hofmannsthal
folgt der „Jandl-Zyklus“ von Minas Borboudakis mit Summ-,
Flüster- und Sprechpassagen, dem ernsten „war je ein
mensch“ von Ulrich Hiestermann, Stefan Kalmers groovendes
„Eins in Zwei“ unter Begleitung von Altsaxophon, Bassgitarre
und Perkussion. Auch aufgeschlossene Interpreten haben es nicht
immer leicht mit der Neuen Musik, selbst wenn sie ihnen auf den
Leib geschrieben wird: Karl-Ludwig Kramer etwa, der den Chor des
Ubbo-Emmo-Gymnasiums Leer leitet, bekennt im Ergebnisgespräch
am nächsten Morgen, beim ersten Durchsehen der Partitur von
Ulrich Hiestermann erst einmal „tief durchgeatmet“ zu
haben. Und die jungen Sänger geben zu, dass der Hofmannsthal´sche
Text zunächst schon ein „hartes Brot“ gewesen sei.
Aber beim Einstudieren und in der Auseinandersetzung mit dem Text
habe sich der Chor mit dem Stück identifizieren können.
Gleiches gilt für den Kinderchor Viva Vocina aus München,
dessen jungen Sängerinnen und Sänger zwischen neun und
13 Jahren der Jandl-Nonsensse in Verbindung mit teilweise graphischer
Notation zunächst schwierig erschien. Schließlich hatten
sie aber Spaß an den „verrückten Stücken“.
Manchmal, lässt Chorleiterin Marita Burkhart durchblicken,
sei auch etwas Druck nötig, um die Kinder und Jugendlichen
zur ungewohnten Arbeit an der Neuen Musik zu bringen. Auf den kann
der Kammerchor Saarbrücken unter seinem Leiter Georg Grün
locker verzichten. Beim Abschlusskonzert in der Aschaffenburger
Stadthalle stellen sie das Auftragswerk an den schwedischen Komponisten
Thomas Jennefelt vor, die „Gesänge am ersten Abend des
Krieges“. Jennefelt hat den Titel für sein Werk aus Anlass
des drohenden Irakkriegs gewählt. Ein willkommenes Zeichen
dafür, dass die Chormusik von ihrer Selbstwahrnehmung her längst
in der Gegenwart angekommen ist.