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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite III
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Weihnachtsbeilage 2003:
Bücher, Hörbücher und CDs
Walfänger und Flüchtlingsschiffe
Highlights der Hörbuchproduktion: Melville, Grass und Proust
Das Beste kommt zum Schluss: In einer Lesefassung gibt es Herman
Melvilles Klassiker „Moby Dick“ schon seit längerem,
jetzt hat Regisseur Klaus Buhlert die obsessive Jagd nach dem Weißen
Wal in ein fast zehnstündiges Mega-Hörstück verwandelt,
das es auf MC und CD gibt und das vorbereitet durch fünf essayistische
Erkundungen, beim BR über den Äther ging.
Moby Dick“ ist beides: Mythos und Metapher einer Welt ohne
Gott (oder mit einem nur noch fernen, nur noch zürnenden Gott),
die erfüllt ist von Ängsten und Traumata und einem Begehren,
das so insistent und ohne Rücksicht ist, dass es nicht weniger
fürchterlich scheint als die Phobien und sonstigen „Engramme“
einer nachhaltigen Erschütterung; aber eben auch eine fast
schon dokumentarische, ungeheuer detailverliebte Studie über
die Arbeitsbedingungen und Mentalitäten der Walfänger
im 19. Jahrhundert. Der Existenzialismus war nicht erst eine neu-pathetische
Erfahrung der Zwischenkriegszeit (Heideggers „Sein und Zeit“)
oder eine jähe, ganze Generationen erfassende und das Alltagsleben
revolutionierende Mode des Nachkriegs (das Saint Germain Sartres,
Boris Vians und der Gréco), er begann schon ein Jahrhundert
früher in den halt- und bodenlosen Notaten Kierkegaards und
in Melvilles wahrhaft unheimlichem, abgründigen Roman. Wer
jüngst die Dokumentation über den RAF-Terroristen Holger
Meins alias „Starbuck“ gesehen hat, der weiß,
dass es alles andere als ein Zufall ist, dass sich der harte Baader-Meinhof-Kern
in der Aussichtslosigkeit der Stammheimer Isolationshaft die Maske
des „Moby Dick“-Personals überzog: Wenn man nur
lang genug an der glatten Oberfläche kratzt, erscheint in den
meisten Leben ein weißer Wal.
Auf seine Weise ist auch Günter Grass ein Obsessiver: ein
Kind der Nazi-Jahre, besessen von der Ergründung der Geschichte,
die sich nicht wiederholen soll. Nicht immer waren seine Roman-Recherchen
in den letzten Jahrzehnten stimmig und spannend oder auch nur auf
der Höhe des „State of the art“, oft erstickte
die Ambition oder auch nur die gute Absicht den Text. Aber anscheinend
hat ihn der Nobelpreis freier gemacht. „Im Krebsgang“,
also in immer neuen Ausweichbewegungen, souverän die Zeiten
und Orten wechselnd, verknappend und collagierend, erzählt
er nicht nur die Geschichte des einstigen „Kraft durch Freude“-
und späteren Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“,
das Anfang des Jahres 1945 von der Sowjet-Marine torpediert wurde
und mit zehntausend Menschen auf den Grund der Ostsee sank, sondern
auch aller Beteiligten: des Auslandsnazi-Chefs, der einem Mordanschlag
zum Opfer fiel und einem Schiff den Namen gab, das ursprünglich
„Adolf Hitler“ heißen sollte, seines jüdischen
Attentäters, des sowjetischen U-Boot-Kommandeurs und des späten
Chronisten, der auf dem Schiff zur Welt kam, als es zu sinken begann.
So entsteht ein wildes, auch wirres Fresko der Katastrophengeschichte
des vergangenen Jahrhunderts, seiner Irrtümer, „untergehenden“
Sehnsüchte, seiner Verbrechen und Verdrängungen, das am
Ende, wenn man Grass (er liest selbst und sehr gut!) zwölf
Kassettenseiten lang zugehört hat, einiges klarer macht.
Dass Marcel Prousts Prosa reine Musik ist, Wort-Musik, deren Suggestion
prä- oder trans-semantisch ist – das ist ein wenig banal,
auch wenn es zweifellos zutrifft.
Worin aber besteht nun jenseits der affektiven Anmutung genau die
Gemeinsamkeit zwischenProust’ scher Prosa und Musik? Zunächst
und vor allem in ihrem Verhältnis zur Zeit. Musik ist selbst
dort noch, wo sie es bestreitet oder negiert, nichts anderes als
Organisation zeitlicher Abläufe. Reine Präsenz kann es
musikalisch höchstens in einem metaphorischen Sinn geben. Das,
was gerade erklingt, erhält seine Struktur, seine Kraft und
Bedeutung aus dem, was schon „verklungen“ ist –
, aber eben nicht, ohne einen „Rest“ im Gedächtnis
zu hinterlassen –, und der gespannten Erwartung dessen, was
folgen wird.
Husserl hat in seinem Buch „Die Phänomenologie des inneren
Zeitbewusstseins“ gezeigt, wie Musik, aber auch Subjektivität
sich der Tatsache verdankt, dass nicht jede Wahrnehmung gleich gegenwärtig
ist. Beide entstehen auf eine sehr fragile, gefährdete, „ekstatische“
Weise aus der feinen, immer wieder neuen und anderen Abstufung von
Präsenz und Absenz.
Was Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
zum wahrscheinlich wichtigsten Roman des 20. Jahrhunderts macht,
ist die Präzision, mit der er vorführt, wie individuelle
und kollektive Erfahrung entsteht. Die „Recherche“ ist
ein Bildungs- und Gesellschaftsroman, – wenn auch nicht mehr
im Sinn des 19. Jahrhunderts. In „Swanns Welt“ ist nichts
mehr selbstverständlich und vorgegeben, alles entsteht und
vergeht, während wir uns erinnern und reden. Reflexion und
Kommunikation sind wichtiger als die Dinge und Erfahrungen, die
in ihrem Strom zerfallen. Proust untersucht die Gesetzmäßigkeiten
des Gedächtnisses und zeigt, dass das, was wir für unser
Selbst und unsere Welt halten, Resultat von Konventionen und Kodierungen
ist, die wir mit anderen teilen.
Dennoch ist er nicht ein Anthropologe oder Soziologe, der das Individuum
für eine „quantité négligeable“ hält.
Was ihn am meisten fasziniert, ist der Mythos eines Lebens: Was
wir sind, ist das, was durch uns hindurchgeht. Was Sinne und Semantik
uns zutragen, ist kontingent – und einmalig. Prousts „Recherche“
ist die Geschichte einer großen Durchlässigkeit –
samt all der Chancen und der Schrecken, die sich daraus ergeben.
Schon der Anfang von „Swanns Welt“ gibt die Themen vor,
die der große Romanzyklus variiert: Der kleine Marcel ist
eingeschlafen und meint, er sei wach. Er träumt; und wird eins
mit den Dingen, die an ihm vorbeiziehen. Er zeigt, wie gewaltsam
und unwahrscheinlich all die Trennungen sind, die Selbstbewusstsein
und Rationalität begründen. Er demonstriert, wie lücken-
und larvenhaft unsere Umwelt, auch die anderer Menschen zunächst
ist – und wie wir sie mit unseren Phantasien und Vorurteilen,
unseren Wünschen und Ängsten auffüllen.
Diese „Recherche“ geht nicht von einer „ganzen“
Welt aus – sie erzählt äußerst subtil, wie
sie nach und nach entsteht. Die Zeit und unser Verhältnis zu
ihr wird dabei zum großen Erbauer und Zerstörer der Welten,
in denen wir leben. Es ist nicht die leere, die mathematische oder
mechanische Zeit, in der sich die Musik und Prousts Prosa entfalten,
sondern die dichte, verschachtelte, auch zerrissene und neu verklebte,
die montierte und die wuchernde Zeit, die Zeit der Erschütterung
der Sinne, die Zeit des imaginären Fließens und der symbolischen
Wiederkehr. Eine Zeit, die man in ihrer gefräßigen Macht
heftiger und unmittelbarer erfährt, wenn man zuhört, als
wenn man selber, „autonom“, stockend oder springend
liest.
Bei Prousts „Recherche“ ist das Hörbuch nicht
einfach eine andere, in vielen Fällen bequemere Weise des „Lesens“,
sondern die gemäßere, authentischere Form.
Helmut Hein
Herman Melville: Moby Dick, Inszenierung: Klaus Buhlert,
8 MCs oder 10 CDs, € 49.95
Günter Grass: Im Krebsgang, gelesen vom Autor, 6
MCs, € 79,95
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In
Swanns Welt. Gelesen von Peter Matic. 18 CDs, € 164,00
Alle im Hörverlag