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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite II
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Weihnachtsbeilage 2003:
Bücher, Hörbücher und CDs
Wagner – für hier, heute und morgen
Udo Bermbach verankert Wagner und dessen Werke in Gesellschaft
und Politik
Udo Bermbach: Blühendes Leid. Politik und Gesellschaft
in Richard Wagners Musikdramen, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart
2003, 363 S., € 39,95, ISBN 3-476-01847-4
Enkel Wieland Wagner hat schon vor seinem frühen Tod 1966
festgestellt, dass die Wagner-Literatur vor 1951 am besten weggeworfen
würde. Leider ist auch seither vieles erschienen, was den Worte-Nebel
um diese sperrig herausragende Künstlerpersönlichkeit
nur verdichtet statt aufgelöst hat. Oft ändern dann Bücher
von außen, also nicht aus der Musik- oder Theaterwissenschaft
die Sichtweise: so nun der neueste Band, der mittlere einer kommenden
Trilogie zu Richard Wagner – ein Buch des ehemaligen Professors
für Politische Theorie und Ideengeschichte Udo Bermbach.
Ein bestechend formuliertes, dennoch gut lesbares Buch: „Blühendes
Leid – Politik und Ge sellschaft in Richard Wagners Musikdramen“
von Udo Bermbach. Mit dem Kurzzitat aus Brünnhildes Schlussgesang
geht der Ideengeschichtler zunächst an Wagners Wurzeln.
Denn dessen Musikdramen schweben nicht im ästhetischen Wolkenkuckucksheim,
sondern sind geprägt von Wagners enormer Belesenheit in der
Literatur des deutschen Vormärz, im französischen Frühsozialismus
und im Anarchismus des frühen 19.Jahrhunderts. Hinzu kommen
die in der Märzrevolution von 1848 gewonnenen politischen Überzeugungen.
Bermbach belegt, dass dies alles in den drei großen Kunstschriften
Wagners im Züricher Exil zusammenfließt und alle Werke
prägt. Bermbach politisiert also nicht den Künstler Wagner
und liest aus dessen Werken das, was ihn als Politologen interessiert,
einseitig heraus.
Wagner selbst sah seine Werke gerade nicht losgelöst und
ins vermeintlich reine Reich absoluter Kunst entschweben, sondern
modern gesprochen: „systemkritisch“ – er selbst
hat formuliert: „Das absolute Kunstwerk ist ein vollständiges
Unding“ – und aufgrund dieser Verwurzelung der Werke
in der gesellschaftspolitischen Realität schließt Bermbach,
dass man die Werke ohne die ihnen innewohnende politische Ästhetik
nicht adäquat verstehen kann.
Schon in den frühen Werken – „Die Feen“,
„Liebesverbot“ und „Die heilige Braut“ –
schält Bermbach viele Motive politisch-ästhetischer Kritik
heraus: am Adel, an der Kirche, an den erstarrten Formen bürgerlichen
Zusammenlebens. „Rienzi“ zeigt dann den Aufstieg und
Fall eines ursprünglich volksnahen, dann zwischen den Fronten
von Volk, Adel und Kirche zerriebenen Revolutionärs. Im „Fliegenden
Holländer“ gibt es angesichts der bestehenden kommerziellen
und gesellschaftlichen Verhältnisse eine Art Erlösung
nur durch Selbstvernichtung.
„Tannhäuser“ ist der Künstler-Rebell, ein
individualistischer Anarchist, der die falsche Ruhe der Etablierten
stört, der Grenzsituationen an sich erprobt und selbst –
wie die Frau, die ihn liebt – den Tod im Gehäuse der
Institutionen findet. „Lohengrin“ löst Bermbach
ganz aus dem Dunst blauer Romantik und beweist Wagners Gegenentwurf
einer charismatischen Herrschaft, die prompt scheitert. Im vermeintlich
unpolitischen „Tristan“ belegt Bermbach den Zusammenprall
von Gesellschaftsordnung und moderner Subjektivität, den Entwurf
einer Liebesutopie gegen die industrielle und damals wie heute durchkapitalisierte
Welt.
„Poetische Regeln demokratischer Selbstregierung“ in
einer Stadtgemeinde und vor allem die Einstufung des Einzelnen durch
seinen künstlerischen Beitrag zur Bürgergemeinschaft –
das arbeitet Bermbach fesselnd aus den vermeintlich nur komödiantischen
oder grandios festlichen „Meistersingern“ heraus. Aufstieg
und Untergang allen strategisch-technokratischen Denkens, Anfang
und Ende aller Politik im „Ring des Nibelungen“ –
da geht Bermbach weit über George Bernard Shaw und Chéreaus
„Jahrhundert-Ring 1976“ hinaus. In völliges Neuland
führt Bermbach dann seine Leser, wenn er „Parsifal“
als den fünften Abend der „Ring“-Tetralogie sieht:
Quasi-liturgische Rituale werden nur eingesetzt, um am Ende eine
völlig andere, nämlich ästhetische Weltordnung zu
beschwören, die nach der Erlösung durch den Gral der Kunst
kommen könnte – Wagners, diese unsere Welt fundamental
in Frage stellende Kunst-Utopie. Doch parallel zu all diesen faszinierenden
Einsichten zeigt Bermbach immer wieder, wie sich die Ideenwelt auch
musikdramatisch in den Kompositionen immer weiter und komplexer
ausbildet.
Den heikelsten Zug des Gesamtwerkes umgeht Bermbach nicht, Wagners
Antisemitismus. Er bestreitet ihn nicht und referiert den Stand
der derzeitigen „nicht abschließbaren Diskussion“.
Er selbst findet aber keine konstitutiven, also die Bühnenwerke
in Ansatz, Kern und Aussagen prägenden Züge. Doch Figuren
wie Alberich, Mime, Beckmesser oder in Teilen Kundry erlaubten aufgrund
ihrer Sprechweise und Figurenzeichnung antisemitisch eingestellten
Zuschauern des 19. und 20.Jahrhunderts klischeehafte jüdische
Konnotationen, von denen Bermbach hofft, dass sie nach 1945 und
dem Holocaust nicht mehr möglich sind. Doch viel wichtiger
und zeitlos gültiger erscheinen Bermbach in Wagners Werken
die konkreten Gegenentwürfe zu dieser unserer Welt: Es sind
gleichsam kritische Stachel aus dem „linken“ Spektrum
gesellschaftspolitischen Denkens. Sie pflanzen utopische Hoffnungen
in die Gesellschaft – vielleicht nicht realisierbar, aber
von einem auch nicht veraltenden Aufforderungscharakter, der immer
wieder neu zu beleben ist, gegen den „Status quo“. Mit
dieser fesselnden Aktualisierung der Musikdramen wird Bermbachs
„Blühendes Leid“ zum wichtigsten Wagner-Buch dieses
Jahres, zu einem unverzichtbaren alternativen Opernführer –
und zu einer Herausforderung an die Regisseure des 21. Jahrhunderts.