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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite I
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Weihnachtsbeilage 2003:
Bücher, Hörbücher und CDs
Seit Jahrhunderten im Dienst der Wahrheit tätig
Aus dem Cellokästchen geplaudert: Wolf Wondratschek im Gespräch
über seine Erzählung „Mara“
Durch viele Hände ist es gegangen, hat genialische Interpreten
erleben dürfen und mediokre Spieler über sich ergehen
lassen müssen, hat die Musikgeschichte seit Beginn des 18.
Jahrhunderts am eigenen Leib erfahren, erspürt und selbst zum
Klingen gebracht: das Stradivari-Cello „Mara“, das nun
in dem Poeten und Erzähler Wolf Wondratschek seinen Chronisten,
seinen Ghostwriter gefunden hat. Denn dessen neues Buch ist eine
Zwischenbilanz dieses bewegten Instrumentenlebens aus der Ich-Perspektive
des Cellos. Für die neue musikzeitung sprach Juan Martin Koch
mit dem Autor über diese ungewöhnliche Erzählform,
über die letzten Geheimnisse der Musik und das Wiedergeborenwerden.
Nicht zu viel Vibrato: Wolf
Wondratschek. Foto: Sepp Dreissinger
neue musikzeitung: Ein Keim Ihres neuen Buches scheint ja
in der Passage einer Ihrer letzten Erzählungen „Die große
Beleidigung“ angelegt zu sein. Dort stellt sich ein Bankier
die Seele einer Geige vor, die sich danach sehnt, gestohlen zu werden,
um dem „Tod im Tresor“ zu entgehen. Führen Instrumente
also ein Eigenleben? Wolf Wondratschek: Oh, da bin ich mir ganz sicher. Das billige
ich sogar einer Pauke zu. Sogar dem Blech. Unterhalten Sie sich
mal mit einem Hornisten, sehr aufschlussreich ist das. Die beichten
ihrem Instrument mehr als dem Herrgott. Und wie große Angst
sie haben vor seinen Launen. Und vor der Unbestechlichkeit seines
Urteils. Es kennt kein Pardon, kein Erbarmen, verzeiht keine Schlamperei.
Es fordert Können, Kenntnisse und Hingabe. Und, noch unverschämter,
Glück. Bei Streichinstrumenten (und nicht nur, natürlich,
denen aus der Werkstatt Stradivaris) ist der Verdacht, es handle
sich um Lebewesen (mit jeweils individuellen Besonderheiten und
Eigenarten) natürlich am naheliegendsten. Warum das so ist?
Vielleicht weil sie klingen wie Seelengesang – und das aus
einer Nähe und Intimität heraus, die etwas Unheimliches
haben kann?
nmz: Das Stradivari-Cello „Mara“, dem Sie seine
eigene Lebensbeschreibung in den Mund legen, ist ja keine Fiktion.
Es existiert, heute gespielt von Heinrich Schiff. Und so macht diese
Autobiografie der anderen Art auf der einen Seite den Eindruck minutiöser
historischer Recherche (und ist es wohl auch), auf der anderen Seite
ist aber die Erzählperspektive reine Fiktion. Würden Sie
das als eine Spannung, einen Gegensatz sehen oder als unproblematische
Balance? Der wenig prätentiöse Tonfall, den „Mara“
anschlägt, spricht ja möglicherweise für Letzteres… Wondratschek: Ich habe mir da, ehrlich gesagt, nie Sorgen
gemacht, noch weniger ab jenem Tag, als ich Heinrich Schiff besuchte
und wir uns einen Abend lang unterhielten (nicht über Mara,
nicht einmal über Musik!) und ich, als ich mich umschaute,
plötzlich das „Mara“ da liegen sah, direkt hinter
mir. Hoppla, dachte ich, da ist es und hört uns zu. So lag
es, dachte ich, in Argentinien in einer Wohnung und hörte zu,
im London des neunzehnten Jahrhunderts oder in Wien zu Lebzeiten
Mozarts.
Was den, wie Sie es nennen „wenig prätentiösen Tonfall“
angeht, so musste klar sein, dass dieses Instrument ganz gegenwärtig
ist, ganz up to date. Es hat mit dem einundzwanzigsten Jahrhundert
zu tun, mit Flugzeugen, musikalischen Arenen und zeitgenössischer
Musiksprache. Es lebt, weil es schnell lernt. Und es lebt, weil
das Holz lebt und in ihm die lebendige Luft. Es trauert keiner Vergangenheit
nach, auch nicht deren sprachlichem Ausdruck. Aber wie die Tonarten,
in denen Musik gesetzt ist, wechseln, variiert das „Mara“
doch auch seinen Tonfall und spielt (wie es das als Musikinstrument
kennt) auch mit den Möglichkeiten seines Sprechens.
nmz: Und erzählt bisweilen mehr, als es eigentlich
wissen kann… Wondratschek: Wissen wir denn, was es wissen kann, dieses
Cello? Und bedenken Sie noch etwas: Als Musikinstrument ist es,
rein beruflich und seit Jahrhunderten im Dienst der Wahrheit tätig,
der musikalischen Wahrheit. Es vibriert in diesem Fieber von Anfang,
von Geburt an, und das buchstäblich. Wollen Sie sich bitte
die Anforderungen dieser Anstrengung vorstellen? Kein Wunder, denke
ich, dass es (in seiner Freizeit sozusagen, zur eigenen Erholung
und Entlastung) einfach mal Lust hat, ein wenig zu übertreiben,
zu bluffen, zu lügen sogar, fantasievoll zu lügen, versteht
sich, auch: Geschichten einfach zu erfinden, auch die unwahrscheinlichsten?
Alles in allem ist Mara, was das betrifft, ein, wie ich finde, begabter
Erzähler. Ich habe viel gelernt von ihm.
nmz: Einer der Besitzer ist auf der Suche nach einem letzten
Rest „an noch nicht, noch überhaupt nie erklungenem Klang“,
den das Cello berge. Ein letztes Geheimnis, das Musik ganz allgemein
nicht preisgibt? Wondratschek: So ist es. Viele letzte Geheimnisse, wenn ich
nicht irre. Wie in der Poesie, die Nabokov als „Mysterium
des Irrationalen“ definierte, wahrgenommen durch rationale
Worte – oder in unserem Fall, noch rätselhafter, durch
Töne, Klänge, reine Schwingung. Wir Menschen sind beim
Hören von Musik Klangbotschaften ausgesetzt, die ganz zu entschlüsseln
wir nicht wirklich fähig sind. Wir gehen beim Hören von
Musik ein Bündnis ein mit Erwartungen, denen entsprechen zu
können wir uns kaum noch zutrauen. Wir fliehen fast vor der
Hypnose, die sich in uns einschleicht, ängstigen uns beharrlich
vor einer Wirkung, deren Risiken wir gern anderen überlassen,
denn wir wissen: wir sind für nichts so erreichbar wie für
Musik (jede Art Musik im übrigen). Homer hat uns das vorerzählt
mit seinen Sirenen.
nmz: Welche Rolle spielt dabei die körperliche Präsenz
von Musik? Wondratschek: Genau die homerische. Odysseus lässt sich
an den Schiffsmast binden (mit wachsverstopften Gehörgängen).
Da wird das deutlich. Menschen, die in Chören singen, sind
trancegefährdete Einzelwesen, sich selbst gefährdend durch
den Ausnahmezustand, selbst Instrument zu sein. Sich trauen zu singen,
davon hat der normale Mitteleuropäer jede Ahnung ziemlich gründlich
verloren. So viel Selbstaufwallung der Seele ist lasziv, es gehört
sich fast nicht, der Unwiderstehlichkeit eines aus dem Körper
kommenden Klangs nachzugeben. Wir haben die Fähigkeiten geopfert,
wild zu sein. Wir sind zivilisiert, also ent-radikalisiert, und
so gesehen geeicht auf Gleichgültigkeit.
nmz: Was bedeutet das für das Sprechen über Musik?
Die beiden längeren – im weitesten Sinne – Beschreibungen
von Musik (Oper im 18. Jahrhundert, zeitgenössische Musik heute)
liegen ja nur wenige Seiten auseinander und sind doch so verschieden
wie das Erklingende selbst. Wondratschek: Die Oper will an die unterdrückten Gefühle
andocken. Sie versucht das ja in den Opernhäusern der Welt
Abend für Abend. Da wäre die eine oder andere Ohnmacht
eigentlich immer noch möglich, also jener kleine Tod der Sinne
durch eine Überdosis an Sympathie. Aber was geschieht statt
dessen? Die Menschen emigrieren vor der Wucht, die bald kein Innen
und kein Außen mehr kennt, in Frisuren, Garderoben, Geschwätz
am Pausenbuffet, Verabredungen für danach. Das ist die Lage.
Es gibt keinen Pakt mehr zwischen dem Gehörten und dem daran
Unerhörten. Die zeitgenössische Musik haut uns diese Ankündigung
regelrecht um die Ohren.
nmz: Als Instrument wiedergeboren – welches wären
Sie (gerne)? Wondratschek: Erraten, ein Cello. Nicht unbedingt „Mara“
– oder eines aus der Stradivari-Gang. Auf diesen Familiennamen
wäre ich nicht versessen. Was mich zu dieser Wahl veranlasst,
ist der Klang dieses Instruments. Weshalb ich als kleiner Bub mich
ja (und das selbstständig) entschieden habe, mir einen Cellolehrer
anzuschaffen und mich elf Jahre privat unterrichten ließ.
Ich habe das alles noch gut im Ohr. Und denke deshalb: Warum nicht
also gleich als Klang wiedergeboren werden dürfen, als der
einer D-Saite zum Beispiel? Kleine Bitte: Klang, ja, aber ohne allzuviel
Vibrato.
Wolf Wondratschek: Mara. Eine Erzählung, Carl Hanser
Verlag, 202 Seiten, € 17,90, ISBN 3-446-20361-3