Das Ensemble Modern führt in Berlin Werke zeitgenössischer
indischer Komponisten auf
Aus Lautsprechern erklingt ein Konzertmitschnitt des vierten Satzes
von Beethovens Sinfonie Nr. 1. Das Stimmengewirr im Hintergrund,
informiert ein Sprecher, stammt von einem Empfang in einer „außereuropäischen“
Botschaft in Berlin. Schon nach dem Anfangsakkord ist das Kichern
unter den Botschaftsgästen zu vernehmen, dem sich das des Konzertpublikums
sofort anschließt. Nach jeder Phrase steigern sich sowohl
in der Aufnahme als auch im Publikum die Reaktionen, bis beim Einsatz
des Allegros aus dem Lautsprecher schallendes Gelächter zu
hören ist.
Die Aufnahme wurde zur Überbrückung einer der vielen
Umbaupausen bei dem dreistündigen Eröffnungskonzert des
Festivals „Rasalila – Spiel der Gefühle“
vorgespielt. Zu der dreitätigen Veranstaltung hatte das Berliner
„Haus der Kulturen der Welt“ eingeladen. Rasalila spielte
jedoch mit mehr: Es stellte Hörgewohnheiten bloß, aber
nicht in Frage, es nahm Hörerwartungen und das Ritual namens
Konzert, wie es in westlichen Konzertsälen stattfindet, in
Augenschein.
Das Haus der Kulturen der Welt (HKW), das gewöhnlich mit
gut kuratierten internationalen Kulturveranstaltungen aufwartet,
hat mit Rasalila die Ergebnisse einer Projektgeschichte von mehreren
Jahren vorgestellt. Johannes Odenthal, Projektleiter und Leiter
des Bereichs Musik, Tanz Theater im HKW, hatte den deutsch-indischen
Komponisten und Kurator von Rasalila, Sandeep Bhagwati, gefragt:
„Gibt es in Indien Neue Musik?“ Bhagwati hatte die Frage
verneinen müssen. Die Begründung: „Neue Musik ist
ja immer auch ein Traditionsbruch – und den hat es in Indien
so nie gegeben.“ Statt darauf zu warten, dass ein solcher
Traditionsbruch in Indien eintritt, oder nur unter den vielen im
Ausland lebenden indischen Komponisten die indische Avantgarde zu
suchen, kamen Bhagwati und Odenthal, überein, indischen Musikern
und Komponisten diese Neue Musik nahe zu bringen. Seit Januar 2001
arbeiten Bhagwati und das Ensemble Modern an dem ambitionierten
Projekt. Ein Projekt, dessen konzeptionelle Tragweite für alle
Beteiligten weit über die musikalische Ebene hinaus eine Herausforderung
darstellte.
Wie viel leichter ist es, die Entscheidung zu treffen, eine musikalische
Begegnung zu vollziehen als einander musikalisch zu begegnen? Das
Ensemble Modern und die indischen Komponisten und Musiker sind einander
begegnet. Noch zaghaft, manchmal nach kurzem Verweilen aneinander
vorbeigegangen. Aber sie haben gemeinsam musiziert.
Der Einstieg ließ zunächst das Gegenteil befürchten.
„Atmarati/Songness“ von Ashok Ranade, eines der Auftragswerke
des Festivals, übergab den Musikern des Ensemble Modern nur
die bordunartige Begleitung des indischen Ensembles. Die musikalischen
Welten führten eine Parallelexistenz; einen zögerlichen,
fast farblosen Hintergrund boten die westlichen Instrumente den
kraftvollen Gesängen der bezaubernden Shubha Mudgal und des
Sarangi-Meisters Dhruba Ghosh. Die Sarangi ist das schwierigste
der traditionellen Instrumente, das in Indien schon als vom Aussterben
bedroht galt. Dem Einfluss von Dhruba Ghosh, dem Neffen des weltberühmten
Flötisten Panalal Ghosh, wird die Sarangi-Renaissance der letzen
Jahre zugeschrieben.
Doch in den folgenden Stücken der Komponisten, die aus dem
Kontext der traditionellen indischen Musik kommen, – alle
Auftragswerke des Hauses der Kulturen der Welt – spürt
man die Ergebnisse der intensiven zweijährigen Zusammenarbeit.
Der engagierte Tabla-Spieler und Komponist Aneesh Pradhan macht
in seinem Werk „Flesh and Blood“ die Musiker zu Instrumenten,
lässt sie nacheinander mit einem Rhythmus einsetzen, den sie
sich auf die Brust klopfen.
Wenn der „Dhrupad“-Künstler Uday Bhawalkar in
dieser ältesten der bis heute praktizierten indischen Gesangstraditionen
das Ensemble Modern singend dirigiert, verschmelzen sie mit ihm
zu einem Klangkörper. Ein äußerst konzentrierter
musikalischer Dialog entsteht, der mindestens genauso im Jazz wie
in der Neuen Musik zu Hause ist. Bhawalkars Komposition „Nada
Ranga“ („Farbe der Klänge“) erforscht den
Umgang mit einem der indischen „Ragas“ (gesprochen:
Ranga). „Ragas“, vergleichbar mit unseren Kirchentonarten,
sind das Tonmaterial, aus dem ein indischer Musiker nach bestimmten
Regeln seine Improvisationen entwickelt. Mit „Nada Ranga“
regte Bhawalkar die Musiker des Ensemble Modern an, diese Regeln
reflektiert, sie übernommen oder auch verworfen.
Ganz anders gestalteten sich die Kompositionen der indischen Komponisten,
die im Ausland studiert haben und in Deutschland, in den USA oder
in Großbritannien leben. Das vertrautere Terrain der Neuen
Musik und das vertraute Ritual des Konzertsaals rückt mit ihnen
wieder näher. „The Unsung Song“ (1993) von Naresh
Sohal, eine Gedichtvertonung für Alt und Ensemble, wird von
Brittens und Tippets Liedvertonungen nicht unbeeinflusst gewesen
sein, kongenial (un)gesungen von Ivonne Fuchs. Dietmar Wiesner fühlte
sich bei seinem bravourösen Solo „Tenderness of Cranes“
(1990) des in Boston lebenden Komponisten Shirish Korde sichtlich
wohler als bei den Ausflügen in die Welt der „Ragas“.
Das „Ludus Ragalis“, zwölf Präludien und Fugen
für Klavier, auf „Ragas“ basierend von dem deutsch-indischen
Komponisten und Professor für Computermusik Klarenz Barlow
umgesetzt, forderten Hermann Kretzschmar heraus. Und er gewann den
Wettlauf mit der spröden Virtuosität in Barlows kontrastreicher
Sprache.
Rasalila wollte nicht mit Mythen aufräumen, sie aber erweitern,
relativieren. So wurden auch die Gegensätze zwischen den Kulturen
nicht verwischt. Die traditionellen indischen Musiker traten in
leuchtender Seide und Socken auf die Bühne, musizierten im
Schneidersitz auf einem Teppich und bedankten sich herzlich mit
gefalteten Händen für den Applaus. Das Ensemble Modern
hingegen erschien vorwiegend in schwarzem Tuch, saß auf schwarzen
Stühlen, die Musiker verbeugten sich mit obligatorischem Kopfnicken.