Stimme aus der Gegensprechanlage: Dick Laurent is dead
„Lost Highway“, eine Oper von Olga Neuwirth und Elfriede
Jelinek nach David Lynchs Film wurde in Graz uraufgeführt
Vor vier Jahren erschien Olga Neuwirths erste Oper „Bählamms
Fest“. Das Libretto verfasste Elfriede Jelinek. Inzwischen
erfuhr das Werk mehrere Inszenierungen, in denen der interpretatorische
Rahmen des surrealen Familienhorrors intensiv erkundet wurde. Jetzt
legten Neuwirth/Jelinek ihre zweite gemeinsame Arbeit vor: das Musiktheater
„Lost Highway” nach David Lynchs Kult-Film. Der starke
Eindruck, den beide Werke hinterließen, erhöht heute
schon die Spannung, mit der man der nächsten gemeinsamen Oper
von Neuwirth und Jelinek entgegensieht, einer Don-Giovanni-Paraphrase
zum Mozart-Gedenkjahr 2006.
„Lost Highway“:
eine Szene aus Olga Neuwirths Oper. Foto: steirischer herbst
Worum geht es in „Lost Highway“? Wolfgang Hofer, der
Dramaturg der Grazer Uraufführung, zitiert in seinem informativen
Aufsatz im Programmbuch die Sätze des Filmdrehbuchautors Barry
Gifford: „Der Film handelt von einem Mann, der sich in einer
Zwangslage befindet und eine Art Panikanfall hat. Die Auseinandersetzung
mit den Folgen seiner Tat ist sehr hart für ihn, und er zerbricht
in gewisser Weise daran…, der Film ist eine höchst realistische
Fallstudie eines Menschen, der mit seinem Schicksal nicht fertig
wird, doch es geht noch um vieles mehr…“. Bei diesem
Mehr, um das es geht, setzen Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek
an. Was Neuwirth am Film besonders interessierte, war dessen dramaturgisch-ästhetische
Perspektive: alles traditionell Narrative wurde radikal ein- und
umgeschmolzen in das Kunstwerk selbst. „Lost Highway“
bildet nicht äußere und innere Vorgänge aus quasi
beobachtender Distanz ab, sondern integriert diese Vorgänge
mit ihren psychologischen und existenziellen Strukturen in die Strukturen
des Werkes. Bei Olga Neuwirth spiegeln sich unsere seelischen Bedrängungen
und Katastrophen, unsere Träume und Ängste, Alpträume,
Sehnsüchte, unsere Gier, unser Schmerz, unsere Grausamkeit,
Brutalität, Kälte und gleichzeitig unser heftiges Liebesverlangen
mit äußerster Präzision im autonomen kompositorischen
Vorgang selbst wider.
Müsste man, sollte man, kann man so etwas wie einen Inhalt
erzählen? Die Grazer Aufführung bietet immerhin ein Szenario
an, gleichsam einen roten Faden für das Labyrinth: Es beginnt
fast kafkaesk: „Im Hause Madison…“ – Stimme
aus der Gegensprechanlage: „Dick Laurent is dead“ (das
Libretto benutzt ausschließlich die englische Sprache, um
etwas von der Authentizität der Film-Vorlage zu vermitteln).
Nach dieser anonymen Todesanzeige fremde Szenen einer Ehe: kalte
Dialoge zwischen Fred und Renée. Sein rasendes Trompetensolo.
Sein Telefonanruf ins Leere. Ein anonym zugestelltes Video verursacht
Ratlosigkeit. Fred und Renée beim hilflosen Versuch, miteinander
zu schlafen. Freds schreckliche Vision im Traum: Renées Gesicht
erscheint in der Maske des Mystery Man. Am nächsten Morgen
wird ein anderes anonymes Video vorgefunden: Fred und Renée,
nächtens im Schlafzimmer, heimlich gefilmt. Freds Polizeinotruf.
Zwei Detektive treffen ein, ohne viel zu klären. Niemand fühlt
sich mehr sicher. Am Ende steht Fred allein vor seinem Haus, spricht
in die Gegensprechanlage: „Dick Laurent is dead!“ Von
Detektiven verfolgt, entschwindet er im Dunkeln. Dazwischen liegen
Szenen in Häusern, Garagen, in Gefängniszellen, in Motels,
im Niemandsland und in der Wüste. Die Geschehnisse verschwimmen
zwischen Realität und Traum. Personentausch, Identitätsverlust,
Verführungen, Mord, Geldraub, Sex und Porno heißen die
Stichworte. Es ist so, als betrachte man diese unsere Zeit und Welt
und deren Bewohner aus einem Satelliten: Ein surrealer Alptraum
aus unendlicher Ferne und doch ganz nah. Wie in einem riesigen Kaleidoskop
fällt alles in rasender Bewegung durcheinander und übereinander.
Überall die Masken des Bösen. Wäre man noch bei Strindberg,
würde man mit der Gott-Tochter Indra jammern, dass es „schade
um den Menschen“ sei. Soviel Mitleid gibt es in unseren Tagen
nicht mehr. Eine kalte, unheimliche Mechanik bestimmt unsere Handlungen.
Und die lautlose Frage, die Olga Neuwirth aufwirft, heißt:
Ob es an diesem existenziellen Endpunkt vielleicht auch eine Ahnung
von einem anderen Lebensentwurf geben könnte.
Die Komponistin Olga Neuwirth aber schwelgt dazu nicht in melancholischen
Begleittönen, schaut nicht mitleidsvoll wie einst Alban Berg
auf den armen Soldaten Wozzeck. Sie stellt ihre Figuren in einen
nüchternen Klang-Bild-Raum, spannt sie in ein komplexes Ton-Bild-Geflecht
ein, in dem sich die auditiven und optischen Gestaltelemente gleichsam
kontrapunktisch verschlingen und gegenseitig steigern. Diese Musik,
grundiert mit einem elektronischen Brummeln und Wummern, wirkt so,
als quelle sie quasi unter den Schädeldecken der Figuren auf
der Bühne hervor, unwirklich, unheimlich, aggressiv dissonant,
sich in surreale Innenräume bohrend.
Olga Neuwirth ist eine Komponistin, die sich wohl am intensivsten
und inspiriertesten um die Vereinigung von Szene, Klang und Video-Elementen
bemüht. Die Ausdrucksmittel des Films führen Neuwirths
Musik-Theater gleichsam in eine weitere Dimension, die dritte oder
auch die vierte: Das filmische Bild wird als weitere Schicht in
die Werkstruktur eingefügt, ist unlösbar mit der Einheit
der Komposition verschmolzen.
Bei der Grazer Uraufführung im Rahmen des „steirischen
herbstes“ wurde das nur partiell erfahrbar, weil sich der
Regisseur und Choreograf Joachim Schlömer darauf versteifte,
das Optische in der Partitur mit theatralen Mitteln herzustellen,
also mit Spielgesten und Sprachgestalten, die sich aus der Musik
ableiten. Auch so entstand zumindest streckenweise eine starke theatralische
Spannung, doch verharrte die Aufführung letztlich in einem
eher tradierten Theater-Gestus.
Von einer weiteren Inszenierung würde man sich wünschen,
dass sie die Film- und Video-Elemente konsequent als integralen
Bestandteil des Werkes betrachtet. Dass die Aufführung gleichwohl
einen überragenden Eindruck vom Werk vermittelte, dankte man
der präzisen, analytisch klaren Realisierung der Partitur durch
das Klangforum Wien unter dem Dirigenten Johannes Kalitzke, dem
Institut für Elektronische Musik und Akustik der Grazer Musik-Universität
sowie dem hingebungsvollen Einsatz eines hochqualifizierten Sänger-Ensembles,
das im ersten Teil auch die gesprochenen Texte souverän meisterte.