Das Festival Schreyahner Herbst auf den Spuren der Moderne
„Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern
träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt
ihr Ende in sich und entfaltet es.“ In der Musikgeschichte
gibt es Momente, in denen der Prozess, den Walter Benjamin in „Paris,
die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ beschreibt, ganz unmittelbar
präsent ist. So in Arnold Schönbergs zweitem Streichquartett
in fis-Moll. Es erklang im September beim Eröffnungskonzert
des Schreyahner Herbstes im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg
– gespielt vom Arditti Quartett aus London. Das gab in seiner
bekannten, von Perfektion wie Einfühlsamkeit geprägten
Manier gemeinsam mit der nuanciert singenden Sopranistin Ingrid
Smithüsen eine fulminante Interpretation. Hochmusikalisch,
und so, dass die Logik des Schritts von spätromantischer Ausdrucksradikalität
zur Atonalität als logisches Ergebnis der Suche nach Darstellung
neuer psychische Realitäten bürgerlicher Individualität
betont wurde.
Irvine Arditti beim Schreyahner
Herbst. Foto: Thomas Janssen
Besser als vom Arditti Quartett könne Neue Musik nicht gespielt
werden, begrüßte Robert HP Platz, der künstlerische
Leiter, das Ensemble in residence. Das Festival erzählte eine
„Kurze Geschichte der Moderne des 20. Jahrhunderts“.
Weil der Schreyahner Herbst (mit in diesem Jahr vier Konzerten)
zu den kleinsten Festivals im Lande zählt, tat er das –
Grenzen als Chance begreifend – anhand des Streichquartetts.
Und folgte so der Feststellung Adornos, dass die Neue Musik in der
Kammermusik herangereift sei, weil diese die „Struktur bis
in die inneren Zellen“ heranbilde. Wie das geschieht, ließen
die detailorientierten und nuancierten der Interpretationen von
Irvine Arditti, Graeme Jennings (Violinen), Ralf Ehlers (Viola)
und Rohan de Saram (Violoncello) deutlich werden.
Deren Qualität entsprach ein durchdachtes Programm, das vier
musikalische Stränge der Moderne beleuchtete. Deren großes
Thema ist die Frage nach den Grenzen und den Voraussetzungen von
Subjektivität. In Korrespondenz mit dem Schönbergschen
fis-Moll Quartett und Weberns „Bagatellen“ wurde anhand
von „Grido“ („Schrei“), Helmut Lachenmanns
drittem Streichquartett deutlich, wie Musik auf Veränderungen
der Idee des Subjekts reagiert. „Grido“ erzählt
von seinem Verschwinden, indem Klang im Geräusch verschwindet
– selten wird Musik so weit von sich weg und zugleich zu ihrem
poetischen Kern geführt. Das „Adagissimo“ Brian
Ferneyhoughs kann als musikalisches Bild eines nur noch fraktal
existierenden Subjekts gehört werden; Wolfgang Rihms hochemotionales
„Fetzen“ bearbeitet in seiner polarisierten Klangsprache
romantische Konzepte von Individualität.
Auch das Streichquartett Ravels steht an einem Punkt, an dem das
„Medium“ wechselte, in dem sich die menschliche „Sinneswahrnehmung
organisiert“ (Benjamin). Wie irritierend das impressionistische
Spiel mit den Farben der Klänge einmal gewesen sein muss, machte
das Arditti Quartet deutlich. Wie inspirierend die so eröffneten
Wege waren und sind, machte exemplarisch Henri Dutilleux’
„Ainsi la nuit“ mit seinen geheimnisvoll-surrealen Klangpulsationen,
seinen sich öffnenden und schließenden Farbfächern
deutlich. Das Erwachsen einer neuen Epoche muss nicht beendet sein,
bevor das nächste Erwachen folgt. Das wird im Vergleich auch
von nordamerikanischer und europäischer Moderne deutlich. Charles
Ives’ zweites Streichquartett, in dem es um Dialog, Konfrontation
und Kompromiss differenter Subjekte geht, zeigt ihn als Erben bürgerlicher
Klassik. Seine rhythmische Prägnanz, die motivischen Überlagerungen,
die wie eine Vorwegnahme heutiger De- und Rekontextualisierungen
wirken, prägen seine utopische Offenheit. Zumal im Vergleich
wirkt „Four“ von John Cage im kompositorischen Rückgriff
auf Orakel-Techniken, im minimalistischen Fast-Verzicht auf Entwicklung,
als wenn es die Idee Subjektivität sistiere.
Heterogenität, nämlich die von Musikkulturen, war Impulsgeber
für jene Moderne, der mit dem Namen Bela Bartoks verknüpft
ist – und zur Musik von György Ligeti und György
Kurtag führte. Die Dichte der Textur von Ligetis hochpoetischem
zweitem Quartett – „sprechend-atmend“ (Rihm) gespielt
–, die pointierte Knappheit von Kurtags „Microludien“
standen für zwei Arten, den Bartok’schen Geist zu mit
anderen Strömungen zu verbinden. In diesem Umfeld war das uraufgeführte
„Inner Circle“ von Philipp Maintz gut platziert, das
dieser Musik wahlverwandt ist.