Die XVII. Weingartener Tage für Neue Musik waren diesen Herbst
dem kompositorischen Schaffen von Helmut Oehring gewidmet. Ein profunder
Einführungsvortrag durch Gisela Nauck, Berlin, legte den Blick
frei für die „enge Verzahnung von Leben und Werk, wie
selten in der Musikgeschichte“. Drei spannende Konzerte mit
den Mitgliedern des avantgardistischen „ensemble aventure“
aus Freiburg sowie ein Gesprächskonzert mit Studenten der PH
Weingarten brachten zum Ausdruck, was in der oberschwäbischen
Provinz los ist, wenn sich alljährlich die Prominenz der Neuen-Musik-Szene
die Klinke in die Hand gibt.
Der 42-jährige Ost-Berliner Oehring erarbeitete während
seines 14-jährigen Schaffens circa 140 Werke und erlebte einen
kometenhaften Aufstieg, der seinesgleichen suchen muss: Uraufführungen
in Donaueschingen, Witten, Berlin sowie London und Paris. Diesen
Sommer in München mit seinem Orchesterstück „Das
Blaumeer“, einer Auftragskomposition von Musica Viva, in der
Ausführung durch das Orchester des Bayerischen Rundfunks. „Ich
arbeite immer dokumentarisch, Kunst interessiert mich weniger“,
bekennt Helmut Oehring freimütig in einem Interview 1991 und
bezieht diesen Standpunkt heute noch. Oehring ist ein Quereinsteiger
ins gewöhnliche Leben und seine Profession: Als Kind gehörloser
Eltern ist Gebärdensprache seine Muttersprache, die Lautsprache
erlernte er mit viereinhalb Jahren durch Freunde. Er spielt E-Gitarre
und erwirbt ebenso autodidaktisch ein „ahnungsloses Komponieren“,
das er später unter anderem als „Meisterschüler“
Georg Katzers an der Berliner Akademie der Künste vertieft,
Oehring ist keiner, der musikgeschichtliche Denkstandards und klare
Traditionsbezüge mit sich führt. Sein Operationsfeld ist
weniger die Phantasie als das Protokoll. Er hält Vorhandenes
fest, das in seinen Partituren zu einer stilisierten Wirklichkeit
wird, ohne dass er selbst den Anspruch erhebt, „Kunst zu machen“.
Man sollte es ihm einfach glauben.
In Oehrings Musik raunt der Klang – findet gelegentlich
seinen Ausbruch, herrscht brüchige Stille, Schichtung von Unvereinbarem,
lebt bittere Wiederholung und Ausdruck der Gebärdensprache.
„Ich denke und träume in Gebärdensprache“,
sagt Oehring und fand im Schreiben von Noten seine Schrift für
Gebärdensprache, die nur im Sehen zu hören ist. Die Rhythmisierung
der Gebärden, Zeichen und Bewegung im Raum transformiert er
in musikalische Geste, die in einer wieder zu erkennenden Matrix
seinen Stil prägt. Oehrings Sprachzustände sind existentielle
Daseinsform seiner Musik. Dies verdeutlichte Wolfgang Rüdiger
im Gesprächskonzert, als er beispielhaft, das Publikum sich
einander auf „fud fud fud“ Geschichten erzählen
ließ: Schließlich „redeten“ Augen, Hände,
Füße, Arme, Augenbrauen…
LIVE (aus: Androgyn) von 1997, das Oehring zusammen mit Iris ter
Schiphorst, seiner Kompositions- und Lebenspartnerin schuf; waren
in exzellenter Bühnenpräsenz durch Jenny Wickes Stimme
und das ensemble aventure wiedergegeben. In „Mischwesen“
von Oehring/ter Schiphorst stellt Christina Schönfeld als gehörlose
Solistin in Gebärdensprache, Fingeralphabet und hilfloser Lautsprache
faszinierend ihren Text dar, der wie in einem Sturnmfilm zu verfolgen
ist. Dazu die Vielschichtigkeit der Klänge des Ensembles (Flöte/Oboe/Fagott/Sample/Keyboard),
die quasi einen anderen Film spielten. Oehrings frühkindliche
Traumatisierung zwischen der Welten der Gehörlosen und Laut-Sprachlichen,
ließ ihn auch zu einem Seismograph für gesellschaftliche
Randthemen werden, die er in seinen Werken thematisiert: Entfremdung,
Einsamkeit, Todesspritze, Koma... Eine Realität als Droge,
die in ihrer Wirkung gelegentlich eine Art psychedelische Musik
generiert. Das Publikum war begeistert, interessiert und verblieb
auch mal in Betroffenheit.