Hochschulen und das Musikleben im Wandel · Von Thomas
Krämer
Wer zu Beginn des dritten Jahrtausends die Absicht hat, ein Musikstudium
aufzunehmen, ist entweder besessen oder naiv. Denn nichts ist mehr
so wie früher, auch das Musikstudium nicht. Die Welt hat sich
in den letzten Jahren rasant verändert, das Musikleben in Deutschland
ist ungemütlich, ja geradezu stürmisch geworden und die
Zukunftsperspektiven mit Blick auf den Arbeitsmarkt „Musik“
sind alles andere als überschaubar. Nur eines hat sich nicht
verändert: Wer vom Honig der Musikbesessenheit geleckt hat,
der wird auch eines Tages in genau diesem Metier arbeiten, vorausgesetzt
er hat zu Beginn seines Studiums das notwendige Maß an Naivität
nicht verloren.
Die anregende Atmosphäre
macht den Musiker: Kammermusikprobe an der Hochschule für
Künste in Bremen. Foto: Seibel, Hochschule für
Künste Bremen
Die 23 deutschen Musikhochschulen sind ein eigenartiges Gebilde:
viel zu kleine Einheiten, eine viel zu geringe Anzahl und im Vergleich
zu großen Universitäten und Fachhochschulen zu exotisch,
um im Reigen der mediensüchtigen Welt überhaupt eine Rolle
zu spielen. Aber sie sind selbstbewusst, nicht zuletzt, weil sie
von den deutschen Universitäten schon immer um zwei Dinge beneidet
wurden, welche in der heutigen bildungspolitischen Diskussion eine
wichtige und profilbildende Rolle spielen: der vielerorts zu beobachtende
hohe Ausländeranteil (bei mancher Musikhochschule liegt er
inzwischen bei etwa 40 Prozent) sowie das strenge Auswahlverfahren
in Form von Eignungsprüfungen, was zur Folge hat, dass sich
die Hochschulen ihre Studenten aussuchen und nicht umgekehrt.
Dabei haben die Musikhochschulen selber in den vergangenen Jahren
etliche Anstrengungen unternommen, ihr tradiertes Leitbild von eher
konservativen Ausbildungsstätten hochbegabter Zöglinge
zu ändern und den sich ändernden Berufsfeldern und Arbeitsbedingungen
anzupassen. Spätestens Mitte der 90er-Jahre hat die Rektorenkonferenz
der nach der deutschen Einheit auf 23 Ausbildungsstätten angewachsenen
Musikhochschulen verstanden, dass Weichenstellungen in der Ausbildung
eher nicht kurzatmig agierenden Kulturpolitikern überlassen,
sondern besser aus der Mitte der Verantwortlichen heraus gesteuert
werden sollten. Nach dem altersbedingten Ausscheiden vieler Rektoren
jener Generation, die sich nach dem Krieg um den Aufbau, den Ausbau
und den Fortbestand ihrer Hochschulen wesentliche Verdienste erworben
hatten, ging es der zweiten Generation der Rektoren nunmehr darum,
mit vorsichtigen Anpassungen und unter Wahrung des bekannt hohen
Ausbildungsstandards dem Musikstudium in Deutschland eine klare,
aktualisierte und zukunftsweisende Profilierung zu geben.
Ergebnis der über mehrere Jahre geführten Diskussionen
war ein im Jahre 1999 vorgelegtes Thesenpapier, welches auch in
der übrigen hochschulpolitischen Landschaft mit Aufmerksamkeit
verfolgt wurde. Alle Bemühungen und Profilierungsversuche der
Musikhochschulen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen,
dass im Verlauf letzten Jahrzehnte der so genannten „Klassiksektor“
in der allgemeinen Konsumakzeptanz der Bevölkerung einen wohl
einmaligen Niedergang hat hinnehmen müssen. Machen wir uns
doch nichts vor: die für die Hinführung zur Musik so wichtigen
Leitfiguren der heutigen Schülergeneration sind schon lange
nicht mehr die Musiklehrer an den Schulen oder die Kantoren und
Organisten an den Kirchen.
Längst ist dieses Feld von MTV-Moderatoren besetzt worden,
welche die jeweils aktuellen Popsongs zielgerichtet vermarkten und
den Zeitgeist verstärken, dass Komponenten wie Tonmischung
und Beleuchtung, Choreographie und Kleidung, Kameraführung
und Videoclips beim Vortrag eines Poptitels eine weitaus größere
Rolle spielen als die Musik selber. Und wenn eine schillernde Figur
wie Dieter Bohlen einmal wöchentlich vor einem Millionenpublikum
vormachen darf und kann, wie so genannte „Stars“ aufgebaut
oder vernichtet werden, dann dienen diese an mittelalterliche Schauprozesse
erinnernden Fernsehsendungen letztlich nur ihm selber. Den Beweis
liefern seine ebenso überflüssigen wie unerträglichen,
in Buchform gepressten „Memoiren“, welche lediglich
Zeugnisse seiner Ich-bezogenen Marketingstrategie sind. Dabei wird
die Kurzlebigkeit von hochgepuschten „Stars“ und ihren
Songs immer mehr zum menschlichen Problem. Wer nicht wenigstens
einmal an einen Anfangserfolg anknüpfen kann, wird gnadenlos
vom Markt gefegt und durch neue Könige der Szene ersetzt.
Dieser Effekt der Halbwertzeit führt denn auch dazu, dass
seit Jahrzehnten eine Branche die GEMA-Hitlisten der am meisten
gespielten und am häufigsten verkauften Titel anführt,
welche bezeichnenderweise an den Musikhochschulen so gut wie keine
– nein: keine! – Rolle spielt: Gemeint ist jene Volksmusikszene,
die mit alpenländischem Touch seit geraumer Zeit beneidenswert
erfolgreich agiert und vielleicht deshalb eine kontinuierlich hohe
Akzeptanz hat, weil der Kern dieser Musik im Wesentlichen erkennbar
bleibt (selbst wenn er sich auf drei Akkorde beschränkt), die
Marketingstrategien eher unspektakulär sind und – vor
allem – die vor sich hin alternde deutsche Bevölkerung
in ihrer stetig anwachsenden Mehrheit bedient wird. Wie ist es anders
zu verstehen, dass sich Lieder wie „Sierra madre sul mar“
oder „Der Anton aus Tirol“ seit Jahren hartnäckig
an der Spitze aller verkauften Titel halten und dabei sogar Evergreens
wie „Yesterday“ oder „Strangers in the night“
auf die Plätze verweisen?
In dieser realen Welt des Musikkonsums spielen Schlüsselwerke
der Musikliteratur wie die Bach´schen Passionen, Mozarts Opern,
Beethovens Sinfonien oder Schuberts Lieder eine immer geringere
Rolle – allen Anstrengungen von Klassiksendungen im Fernsehen,
diversen Festivals und Forderungen des Deutschen Musikrats wie auch
des Bundespräsidenten nach mehr Musikunterricht zum Trotz.
Wie anders ist es zu verstehen, dass der Klassik-CD-Markt so gut
wie zusammengebrochen ist? Dass das Durchschnittsalter von Konzert-
und Theaterbesuchern bedenkliche Höhen angenommen hat?
Umso wichtiger erscheint mir aber, dass gerade deshalb die Aufnahme
eines Musikstudiums im Sinne antizyklischer Spiralwirkungen durchaus
sinnvoll sein kann. Es wäre nicht das erste Mal in der Kunst-
und Konsumgeschichte, dass unter dem Aspekt dialektischer Selbststeuerung
Inhalte und Geschmacksrichtungen völlig ins Gegenteil gekehrt
werden können. Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass gregorianische
Melodien „in“ sind und dass nach Kochrezepten einer
Hildegard von Bingen gespeist wird? Wer kann ernsthaft ausschließen,
dass Mozarts „Jupiter-Sinfonie“ eines Tages „Kult“
wird? Dass man Mendelssohns „Elias“ in Massenbesetzungen
zelebriert?
Aspiranten auf ein Musikstudium sollten indes nur eines bedenken:
Wer sich dagegen wehrt, das gesamte Spektrum der Musik zu akzeptieren,
hat verloren. Man muss den „Anton aus Tirol“ ja nicht
lieben und kann auch an Lachenmanns Oper „Das Mädchen
mit dem Schwefelholz“ hadern. Aber man muss sich eine militant-tolerante
Offenheit erwerben, um in den sich ändernden Berufsfeldern
– mit völlig anderen Arbeitsbedingungen als noch vor
Jahrzehnten – bestehen zu können. Hilfreich hierbei ist
vor allem das Erstreben von Mehrfachqualifikationen während
des Studiums, zum Beispiel nach den Formeln „Orchestermusik
plus Musikerziehung“ oder „Kirchenmusik plus Schulmusik“
oder „Hauptfach Geige plus Elementare Musikpädagogik“.
Die Musikhochschulen jedenfalls sind darauf eingerichtet, der Fantasie
der Studenten in diesem Punkt entgegenzukommen.