Von den Heilungschancen übersensibler Egozentriker
Wie eine junge Orchestermusikerin auf ihr Studium zurückblickt:
ein Erfahrungsbericht – eine Vision
„Musik – kann man das studieren?“ Dass man das
kann, ist schnell geklärt. Die Frage, woraus denn dieses Studium
besteht, ist schwieriger zu beantworten. Eigentlich muss ich mich
immer ein bisschen rechtfertigen, wenn ich anderen erzähle,
was ich in meinem Studium zu tun habe. Zum einen, weil sowieso niemand
nachvollziehen kann, dass man tagein, tagaus übt, zum anderen,
weil ich um die wenigen Vorlesungen und Veranstaltungen in der Woche
beneidet werde.
Im Rückblick kann ich sagen, dass ich es als großes
Glück empfinde, so viel Zeit und Raum gehabt zu haben, um persönlich,
handwerklich und künstlerisch zu wachsen. Mancher Nicht-Musiker
kann es schwer fassen, dass man den ganzen Tag nicht viel mehr zu
tun hat als zu üben. Ich halte diese „freie“ Zeit
für sehr wichtig und unentbehrlich, weil in ihr die eigentliche
Entwicklung eines Musikers geschieht. Dennoch habe ich mich manchmal
etwas verloren gefühlt in dieser Masse von Zeit, in der man
übt und sich eigentlich nur mit sich selbst beschäftigt,
die einen bisweilen auch lähmt.
Das Üben ist zweifellos die wichtigste Voraussetzung für
das Vorankommen, und letztlich ist ja das spielerische Können
ausschlaggebend für eine Einstellung im Orchester. Es gibt
vielleicht kein anderes Studium, das einem Studenten so viel Zeit
für sich selbst und die eigene persönliche Entfaltung
gewährt; andererseits ist wohl auch nirgends ein Student so
auf sich gestellt und allein gelassen mit dieser Zeit und sich selbst
wie in einem Musikstudium. Zum einen ist es oft schwer, sich diese
Zeit sinnvoll einzuteilen.
Meiner Ansicht nach arbeitet man konzentrierter und somit effektiver,
wenn man mehr Struktur im Tagesablauf hat. Zum anderen bringt die
Fixierung auf das eigene Instrument und auf sich selbst Probleme
mit sich: Ein Student, der sechs Stunden am Tag alleine in einem
Raum steht und übt, vereinsamt. Ein Student, der sechs Stunden
lernt, vereinsamt weniger, weil er sich in dieser Zeit mit unpersönlichem
Fremdstoff beschäftigt. Ein Musiker beschäftigt sich in
der Zeit hauptsächlich mit sich selbst, mit seinen Problemen,
Gefühlen und Ängs-ten.
Das Leben und der Fingersatz
Was lernt man in vier bis fünf Jahren Studium außer
Fingersätzen und Bogentechnik? Man lernt sich selbst kennen
und das oft intensiver, als einem recht ist. Leicht verliert man
die Relationen für alles um sich herum: „Ich bin schlecht
drauf, weil ich schlecht geübt habe.“ – „Wenn
ein Lagenwechsel im Unterricht nicht klappt, gleicht das einer Umweltkatastrophe“
und „Wenn ich bei einem Vorspiel gut spiele, mögen mich
die Leute“. Jeder kennt diese Gedanken. Und so albern sie
wirken, sie sind doch der Ausdruck dessen, was aus uns gemacht wird:
übersensible Egozentriker. Im Orchester wird schnell deutlich,
wie hinderlich und unnötig diese Entwicklung ist. Nach jahrelanger
Beschäftigung mit dem Ego ist es schwer, sich in eine Gruppe
einzuordnen, sich in ihr spielerisch und sozial zurechtzufinden.
Das überfordert viele, weil auch soziale Fähigkeiten im
Studium verkümmern. Die Ich-Bezogenheit ist wahrscheinlich
unumgänglich, wenn es um die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
geht. Die Förderung sozialer Kompetenz würde allerdings
das Egozentrische aufweichen und dadurch den Schritt ins Berufsleben
erleichtern.
Eine der schwierigsten Aufgaben, mit denen ein Orchestermusiker
immer wieder konfrontiert ist, ist die starke Ambivalenz seines
Berufs: Er muss ein Teil vom Ganzen sein, ist in der Gruppe als
Einzelner wichtig und darf sich doch nicht wichtig nehmen. Ist er
zu sehr Individuum, fällt er aus der Gruppe, ein zu angepasster
und blasser Musiker, der in der Gruppe untergeht, wird nicht gebraucht.
Das richtige Maß zwischen diesen beiden Polen zu finden, ist
eine Aufgabe, die sich immer erneuert und die man auch für
sich und sein Selbstwertgefühl lösen muss.
Hier bietet die Kammermusik eine wunderbare Möglichkeit, schon
im Studium mit dieser Ambivalenz umzugehen und sensibel für
beide Seiten zu werden. Die meisten deutschen Hochschulen bieten
Kammermusikunterricht an, trotzdem kommt die kammermusikalische
Arbeit neben dem Schwerpunkt „Hauptfach“ zu kurz. Jetzt,
wo es am Ende des Studiums daran geht, Probespiele zu machen, wird
mir unangenehm bewusst, wie sehr sich alles auf diese Probespielsituation
verengt, auf Tagesform, auf starke Nerven, auf ein paar Orchesterstellen
und auf zwei Konzerte der gesamten Violinliteratur. Das ist das
Ziel, auf das man vier oder fünf Jahre lang hingearbeitet hat…
Ich bin der Ansicht, dass im Probespiel eine Kammermusik-Runde
für alle Beteiligten ein großer Gewinn wäre: Der
Kandidat hat die Möglichkeit, eine andere wesentliche Qualität
zu zeigen, das Orchester kann sehen, wie sich der Bewerber in eine
Gruppe einfügt. Dies dürfte hilfreich und entscheidend
sein. Außerdem wären die Orchestermusiker selbst gefordert,
vor ihren eigenen Kollegen zu spielen. Dass es in Deutschland bisher
nur zwei oder drei Orchester gibt, die die Kammermusik in ihr Probespielverfahren
integriert haben, ist mir unbegreiflich. Hoffentlich orientieren
sich künftig mehr Orchester an diesem Modell. So erhielte die
Kammermusik auch in der gesamten Ausbildung einen höheren Stellenwert.
Ich habe Schwierigkeiten und Probleme geschildert, denen ich im
Lauf meines Studiums begegnet bin. Aus ihnen kristallisieren sich
Vorstellungen davon heraus, wie es auch hätte sein können
oder wie es in Zukunft sein könnte: Von einem künstlerischen
Studium erwarte ich, dass es mir mehr an die Hand gibt als das handwerkliche
Rüstzeug, um im Orchester zu spielen. Ich finde, dass sich
das Studium zu sehr auf das stupide Einzelüben konzentriert,
dass Nebenfächer und allgemeine Bildung zu sehr unter den Tisch
fallen, dass man geistig verarmt. Außerdem wird die Entwicklung
sozialer Kompetenz grob vernachlässigt. Nebenfächer könnten
aufgewertet und das Lehrangebot insgesamt vergrößert
werden. Im Rahmen der allgemeinen Europäisierung werden sich
auch Musiker ins Ausland orientieren; also könnte man beispielsweise
Sprachkurse anbieten. Zudem ist es unbedingt notwendig, dass es
die Möglichkeit und Anleitung zu sportlichem Ausgleich gibt.
Kammermusik als Gegenpol
Gerade ein künstlerisches Studium braucht einen geistig-körperlichen
Gegenpol zur praktischen Tätigkeit. Die Etablierung der Kammermusik
halte ich am Ende für eine der wichtigsten Maßnahmen.
Die Kammermusik fängt mehrere geschilderte Schwächen und
Gefahren des Studiums gleichzeitig auf und bietet den Hintergrund
für dessen sozialen Aspekt.
Eine vielseitigere Ausbildung soll die Zeit nicht übermäßig
einschränken, die ich für das Reifen zum Musiker für
so notwendig halte. Doch könnte ein umfassenderer Studienplan
erreichen, dass überflüssige Zeit, in der man oft in der
Luft hängt, sinnvoll genutzt und die Übezeit durch die
Beschäftigung mit etwas Konträrem effektiver würde.
Außerdem muss unser gesamter Anspruch an uns selbst als Vermittler
und Träger von Kultur wieder wachsen.