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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 39
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Forum Musikpädagogik
Das ganze Potenzial einer verbindungsstiftenden Disziplin
„Gestaltungsprozesse erfahren – lernen – lehren“:
Symposion des Arbeitskreises Elementare Musikpädagogik in Stuttgart
„Präsent sein“: Das Motto, das Charlotte Fröhlich
über ihren Vortrag zu „Differenzierungs- und Gestaltungsprozessen
aus dem musikalischen Jetzt“ gestellt hatte, wäre ohne
weiteres als Notwendigkeit und Mahnung auf musikalische Fachdisziplinen
im Allgemeinen und die Elementare Musikpädagogik (EMP) im Besonderen
zu übertragen. Damit sei nicht blindem Aktionismus oder bloß
geschmeidiger Öffentlichkeitsarbeit das Wort geredet, sondern
zweierlei ausgesagt: Zum einen braucht ein in der akademischen Verankerung
jüngeres Fach wie die EMP die Präsenz nach außen,
um sich, statt in Legitimationszwänge zu geraten, als kompetenter
Partner in bildungspolitisch stürmischen Zeiten anzubieten.
Zum anderen muss es sich nach innen, also denjenigen, die das Fach
studieren, unterrichten und/oder praktisch „anwenden“,
immer wieder in seiner Bandbreite, seinen Möglichkeiten und
Zielsetzungen ins Bewusstsein rufen, was über das „Präsentieren“
hinausgehen und die Selbstbefragung, die Reflexion und somit die
Weiterentwicklung miteinschließen muss. Das Gelingen eines
Symposions wäre also auch daran zu messen, welche Präsenz
sie dem Fach in diesem Sinne hat verleihen können. Zunächst
aber zurück zu Charlotte Fröhlichs Vortrag, der einiges
zur Sprache brachte, was für den Kongress des Arbeitskreises
Elementare Musikpädagogik (AEMP) an der Stuttgarter Musikhochschule
insgesamt Relevanz besaß. Bezug nehmend auf den Kulturanthropologen
Jean Gebser und sein Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“
machte sie dessen Überlegungen zur Geschichte menschlicher
Bewusstseinsstrukturen für ihre praxisorientierten Betrachtungen
musikalischer Gestaltungsprozesse im Elementarbereich fruchtbar.
Präsenzqualitäten
Blick in Werner Beidingers
Workshop „Musik spielend gelernt“. Foto: Koch
Aus den von Gebser unterschiedenen Strukturen des Magischen, des
Mythischen und des Mentalen entwickelte sie „musikpädagogisch
sinnvolle Interventionen“ für den Unterricht, indem sie
jeder dieser Bewusstseinstrukturen eine Präsenzqualität
mit spezifischen Eigenschaften zuordnete: der magischen die nicht
vorhersehbare Qualität des Gebanntseins, der Zeitlosigkeit
und der reinen Sinnlichkeit; der mythischen die Unterscheidung von
Außen- und Innenwelt, das bewusste Spielen und das Aufgehen
in der Gemeinschaft; der mentalen schließlich die Klarheit
und Präzision, das Regelhafte und den Werkcharakter. Daraus
abzuleitende Aufgaben in Unterrichtssituationen wären somit
beispielsweise ein behutsames Aufbrechen der Vereinzelung in der
magischen, das Differenzieren durch Wiederholung in der mythischen
oder das graduelle Zulassen von Wettbewerb in der mentalen Präsenzqualität,
immer freilich mit dem Bestreben, die Bewusstseinsschichten aufeinander
zu beziehen, sich gegenseitig befruchten zu lassen. Dass auch ein
solcher Vortrag „Gestalt“ annehmen kann, zeigten Studentinnen
der Mannheimer Hochschule, die Fröhlichs Ausführungen
mit drei kurzen Performances illustrierten.
Präsenz nach außen
Wie überhaupt der künstlerische Anteil des Faches EMP
das Symposion auf beeindruckende Weise durchzog. Schon zur Eröffnung
hatten Stuttgarter Studenten eine furiose Solo-Ankunftsszene mit
Klavierbegleitung hingelegt; ausführlicher bot sich dann in
der Abendveranstaltung Kommilitonen auch aus anderen Hochschulen
Gelegenheit, das hohe Niveau ihrer instrumentalen und tänzerischen
Ausbildung zu demonstrieren: Das allmähliche Formieren eines
Ensembles zu Strawinskys „Tango“ thematisierte eine
weitere Stuttgarter Aufführung, das Entstehen eines dadaistischen
„netten Sonetts“ ein Beitrag aus Nürnberg; Studien
zur Struktur des menschlichen Gehirns und die Umsetzung eines Wassergedichts
von Ernst Jandl kamen aus Hamburg, intensive Duo- und Solonummern
aus Freiburg, wiederum Stuttgart und Saarbrücken. Endgültig
zum Toben brachte das Auditorium schließlich die quasi professionelle
Formation „BodySounds“ aus Potsdam, eine sympathische
Gruppe von Stimm- und Bodypercussionakrobaten mit perfektem Timing
und brillanten Ideen für Arrangement und Bühnenaktion.
Gut für die Präsenz nach außen, dass das Ganze im
Rahmen der Stuttgarter Kulturnacht eine breite Öffentlichkeit
erreichte.
Thema Ganztagsschule
Gut auch, dass eine Vertreterin des baden-württembergischen
Kultusministeriums zumindest einen Teil der Tagung verfolgte. Sie
dürfte sich vor allem für jene Beiträge interessiert
haben, die den Aufgabenbereich skizzierten, den EMP-Absolventen
schon heute abdecken und wo sie in Zukunft möglicherweise verstärkt
gefragt sein dürften. So berichtete Christa Schäfer von
den ersten Erfahrungen mit Ganztagsschulmodellen in Rheinland-Pfalz,
wo bis zum Jahr 2006 auf diese Weise 20 Prozent der Schulen abgedeckt
sein sollen. Bei den musikalischen Nachmittagsangeboten, für
die sich die Schülerinnen und Schüler nach einer Probezeit
für das ganze Schuljahr verbindlich entscheiden (sollten),
spielen neben dem Instrumentalunterricht übergreifende Projekte
eine wichtige Rolle, für die in der EMP Ausgebildete besonders
gut präpariert sein dürften. Nicht umsonst werden beim
Quereinstieg von der Musikschule ins Referendariat (bis Sekundarstufe
I) Leiter/-innen Musikalischer Früherziehungsgruppen oft bevorzugt.
„Scheinerlei –
Zweinheit“: eine Studie von Margret Görner und
Cornelia Boczek. Foto: Koch
Das nicht zuletzt im Zuge der PISA-Diskussionen erstarkende Selbstbewusstsein
des Faches reflektierte Michael Dartsch in seinem Vortrag „Erziehung
zwischen Kunst und Künstlichkeit: Zur Bedeutung gestaltungsorientierter
Bildungsarbeit“ und lieferte unter Vermeidung axiomatischer
Voraussetzungen eine klare, dem Publikum offenbar hochwillkommene
Beantwortung der Frage: „Wozu brauchen wir eigentlich Elementare
Musikpädagogik?“. Unter Verweis auf die Musik als besondere
und in ihrer speziellen Eignung für Bewusstseinsinhalte lebensnotwendige
Form der Kommunikation arbeitete er deren Weitergabe in Gestalt
von natürlicher, im Alltag vorgelebter „Präsentation“
als Grundbedingung musikalischer Erziehung heraus, um anschließend
deren institutionalisierte Kehrseite zu erörtern: die in Erziehungs-
und Bildungseinrichtungen öffentlich oder privat „veranstaltete“
Präsentation von Musik, die er Bezug nehmend auf Klaus Mollenhauer
als „Repräsentation“ bezeichnete. Im günstigen
Falle könne die EMP dabei „so etwas wie eine Ersatz-Umwelt“
darstellen, in der das Lernen teilweise „natürlich“,
das heißt, analog zum Lernen im häuslichen Umfeld weitgehend
selbstgesteuert und ungezwungen, erfolgen könne.
Standortbestimmungen
Dartsch weiter: „Eine ähnliche Orientierung findet
sich auch in der Pädagogik der Tageseinrichtungen. Auch und
gerade nach dem PISA-Schock kann eine generelle Verschulung des
Lernens im Sinne einer größeren Lebensferne der Lernangebote
nicht angeraten sein, da sie den Willen zur Mitarbeit sowie Selbstdisziplin
und Ausdauer für Tätigkeiten voraussetzt, die nicht primär
der Motivation der Kinder entspringen.“ Überlegungen
zu den in der institutionalisierten Musikpädagogik notwendigen
Methoden und ein Plädoyer für die künstlerische Qualifizierung
innerhalb der EMP-Ausbildung rundeten Dartschs Referat zu einer
gerade in ihrer fundierten Nachdenklichkeit prägnanten Standortbestimmung
des Faches.
Aus einer anderen Perspektive hatte eine solche auch die Sprecherin
des AEMP, Juliane Ribke, in ihrem Eröffnungsvortrag vorgenommen:
Unter dem Titel „In Verbindung sein – Fokus und Vernetzung
Elementarer Musikpädagogik“ präsentierte sie das
Fach unter Rückgriff auf Forschungsergebnisse aus Neurophysiologie
und Entwicklungspsychologie sowie auf postmoderne Ansätze in
der Ästhetik als „verbindungsstiftende Disziplin“,
die Beziehungen zwischen Mensch und Musik, Musik und anderen Künsten,
Menschen untereinander und dem Menschen und seinem Selbst herstellen
könne. Dabei spiele der gestalterische Prozess eine entscheidende
Rolle, weil er in einem schöpferischen Vorgang Grunderfahrungen
in gestaltfähiges Material einbinde und transformiere.
Präsenz nach innen
Weitere Referate waren der „Inszenierung musikalisch-ästhetischer
Erfahrungsräume in der EMP“ (Claudia Meyer) und der „EMP
im Spannungsfeld der polyästhetischen Erziehung und Bildung“
gewidmet (Johanna Metz und Regina Pauls). Nicht alle Workshops und
„exEMPla“ bezogen sich so unmittelbar auf das Kongressthema
wie Juliane Ribkes eigene praktische Veranstaltung, in der die Gruppe
aus subjektiven Assoziationen zum Thema „Vulkan“ eine
Art geplante Improvisation mit Bewegungs- und Lautelementen gestaltete
und diese auch reflektierte. Vielfach ging es verständlicherweise
einfach auch um ganz allgemeine praktische Anregungen für die
eigene Auseinandersetzung mit bestimmten Zielgruppen oder in speziellen
Arbeitsbereichen. Geballte Präsenz nach innen also, hier nun
in Gestalt motivierter und motivierender Dozenten/-innen, denen
das Weitertragen ihrer Begeisterung für die Materie spürbar
am Herzen lag. In dem durch Werner Rizzis animierende Einladung
zum gemeinsamen Singen und eine konzentrierte Performance wieder
höchst lebendigen Abschlussplenum der über 200 Teilnehmenden
war noch einmal das Potenzial des Faches zu spüren, das sich
in diesem ebenso fundierten wie energiegeladenen Kongress in jeder
Hinsicht bestens präsentierte.