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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 8
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Kulturpolitik
Ein guter Wein entwickelt sich aus verschiedenen Trauben
Das Europäische Komponistengespräch in Berlin ·
Von Albrecht Dümling
Komponisten aus fünf Ländern Europas trafen sich im Berliner
Haus der GEMA am 1. November 2003 im Rahmen des Fonds Européen
des Sociétés d’Auteurs pour la Musique (FESAM)
zu einem Europäischen Komponistengespräch zum Thema „Ernste
Musik in der Spaßgesellschaft des 21. Jahrhunderts“.
Moderator des Dialogs der
Kreativen: Albrecht Dümling (re.) neben Michael Karbaum
(Mitte), GEMA-Stiftung, und Karl Heinz Wahren (li.), Präsident
DKV
Ist die Frage nach der Krise der Neuen Musik überhaupt aktuell?
Manfred Trojahn bestritt dies und verwies auf eigene Statements
aus den siebziger Jahren. Schon damals habe er sich um neue Spielorte
bemüht, etwa in der Hamburger Kampnagel-Fabrik, und zugleich
die Integration des Neuen ins Abonnementkonzert versucht. Die Krise
sei nicht 30, sondern schon 300 Jahre alt, warf ein Kollege ein.
Oder begann sie gar, wie Konrad Boehmer listig meinte, vor tausend
Jahren, als die Mönchsgesänge von anderen Musikarten verdrängt
wurden? War denn die zeitgenössische Musik nicht immer schon
ein Minderheitenphänomen? Wurden nicht die Bühnenwerke
eines Ignaz Umlauff in Wien häufiger gespielt als die Mozarts,
schätzten die Zeitgenossen die Klaviermusik eines Julius Kalkbrenner
nicht höher ein als die Robert Schumanns? Die heutige Krise,
so Boehmer, hat andere Gründe: Sie besteht in einer Überinstitutionalisierung
und einem Überangebot von Komponisten und Werken, die alle
in die gleichen Medien drängen.
Beim Europäischen Komponistengespräch, zu dem die GEMA
unter dem Motto „Ernste Musik in der Spaßgesellschaft
des 21. Jahrhunderts“ am 1. November nach Berlin geladen hatte,
diagnostizierten dagegen die französischen Teilnehmer überhaupt
keine Krise. Gemeinsam setzten sie absolutes Vertrauen in die Notwendigkeit
großer Kunst unabhängig von der Gesellschaft. Der zwischen
Theorie und Praxis vielfältig tätige Henry Fourès,
der heute das Nationalkonservatorium von Lyon leitet, definierte
sich als Optimist oder fröhlicher Pessimist. Für ihn ist
die Kunst real, dagegen die Spaßgesellschaft eine Fiktion,
ein Phantasma. Von einer Krise der Kunst könne man nicht reden,
allenfalls von einer Krise der Gesellschaft.
Der Messiaen-Schüler Philippe Fénelon ist zufrieden
mit den Besucherzahlen bei Konzerten Neuer Musik, so dass er die
Suche nach anderen Aufführungsorten für überflüssig
hielt. Angesichts der Omnipräsenz der Medien gebe es keine
verkannten Genies. Die wirkliche Begabung, so meinte er optimistisch,
setze sich immer durch. Von einer Krise der Kreativität könne
heute ohnehin nicht die Rede sein. François Bayle, als einstiger
Mitarbeiter von Pierre Schaeffer und Olivier Messiaen ein Avantgardist
der alten Schule, schwärmte von der Bereicherung der Musikwelt
durch audiovisuelle Medien. Das Schaffen Ernster Musik mache, wie
auch Lothar Voigtländer bestätigte, großen Spaß,
sei hierin also kein Kontrast zur modernen Spaßgesellschaft.
Moritz Eggert, wohl der Jüngste in der Runde, war mit einer
so selbstverliebten Position nicht zufrieden. Seiner Meinung nach
können sich die Komponisten den Fragen, die die Gesellschaft
an sie stellt, nicht entziehen. Sind aber nicht die U-Musik-Komponisten,
fragte er provozierend, die eigentlich Ernsten, weil sie ihre Zwecke
und Zielgruppen oft genauer im Visier haben als die verträumten
E-Kollegen? Diese wären demnach die Spaßgesellschaft,
da sie auf Kosten der U-Musik leben. Reinhard Flender warnte allerdings
davor, mit solchen Gedankenspielen gewachsene Förderungsstrukturen
in der GEMA sowie die staatliche Kultursubventionierung in Frage
zu stellen.
Aktiver Umgang mit Medien
Ähnlich gespalten wie in der Frage der Krise war die Runde
in der Einschätzung der Massenmedien. Michael Karbaum hatte
als Vertreter der gastgebenden GEMA zugespitzt, nur das existiere
heute, was von den Medien aufgegriffen wird; Komponisten sollten
deshalb ihre Werke über Schallplatte, Rundfunk, Fernsehen und
Presse zugänglich machen. Dem widersprach Reinhard Flender:
die Neue-Musik-Szene könne heute in Deutschland mehr Spezialensembles
und mehr Uraufführungen denn je vorweisen. Diese Szene existiere
also, wenn auch – ebenso wie die Chorszene – weitgehend
außerhalb der Medien. Überhaupt sei Neue Musik in Rundfunk
und Fernsehen schwer zu vermitteln und unterscheide sich damit prinzipiell
von der gezielt für Massenmedien entwickelten Unterhaltungsmusik.
Liegt aber nicht in dieser Distanz zwischen Medien und Ernster
Musik ein zentrales Problem? Warum wurden die schon in den zwanziger
Jahren von Kurt Weill, Max Butting, Paul Hindemith, Hanns Eisler
und Hermann Scherchen unternommenen Bemühungen um eine mediengerechte,
spezifisch radiophone Musik nicht ernsthafter weitergeführt?
Konrad Boehmer bezeichnete es als ein ernsthaftes Versäumnis,
wenn sich Komponisten heute nur passiv zu den Medien verhalten,
sie lediglich als Transportmittel begreifen. Der Komponist dürfe
sich den medialen Bedingungen nicht sklavisch anpassen. Notwendig
sei vielmehr eine aktive Haltung, wobei sich Werk und Medium dialektisch
beeinflussen. Dieses Statement des ebenso eloquenten wie polyglotten
Niederländers machte Eindruck. Manfred Trojahn und Moritz Eggert
entdeckten hier die wichtigste Herausforderung der Diskussion. Der
berechtigten Skepsis von Karl Heinz Wahren gegenüber dem dualen
System von öffentlichen und privaten Sendern, das immer mehr
zu einer fatalen Quotenorientierung führe, stellte Boehmer
positive Erfahrungen mit unabhängigen Produzenten gegenüber.
Trotz der Mitwirkung der beiden Niederländer Konrad Boehmer
und George Knops sowie von Paul Hertel (Wien) handelte es sich überwiegend
um einen deutsch-französischen Dialog. Nach der deutschen stellte
die sechsköpfige französische Delegation, zu der auch
Olivier Bernard, Gaël Marteau und Marion Roudeix von der SACEM
gehörten, die größte Gruppe dar. Die vier Schweizer
hielten sich zunächst im Hintergrund und verstanden sich, wie
es Hans Ulrich Lehmann erläuterte, als Beobachter. In der Rundfunkfrage
griffen sie dann aber in die Debatte ein. Während Lehmann und
Thierry Mauley sich zur Situation der zeitgenössischen Musik
in der Schweiz zufrieden äußerten, beklagte Jean Balissat
ihr Abdriften in Spartenprogramme; anders als früher werde
das breite Publikum mit neuen Klängen gar nicht mehr konfrontiert.
Passend dazu berichtete Hertel von Plänen des ORF, in einem
Spezialprogramm hauseigene Produktionen zeitgenössischer Musik
ganztägig auszustrahlen – allerdings ohne zusätzliche
Honorare für die Urheber.
Öffnung
Eggert sprach von einer veränderten Einstellung des Publikums.
An die Stelle der früher verbreiteten Haltung des „Das
verstehe ich nicht“ sei inzwischen ein „Das mag ich
nicht“ getreten. Früher hätten selbst Ignoranten
der Neuen Musik eine gewisse gesellschaftliche Bedeutung und Notwendigkeit
zugestanden. Heute dagegen bekundet man sein Desinteresse und ist
zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kaum mehr bereit. Selbst
gebildete Kreise fühlen sich heute nicht mehr verpflichtet,
wie Paul Hertel bestätigte, sich über zeitgenössische
Musik auf dem Laufenden zu halten. Die französischen Teilnehmer
empfanden das nicht als Problem, beharrten sie doch ohnehin auf
ihrer Minderheiten- und Eliteposition. Dagegen wollten sich einige
der deutschsprachigen Komponisten mit der Getto-Situation nicht
zufrieden geben.
Wie aber kann diese Isolation durchbrochen, wie können die
verschiedenen Individualstile, deren Notwendigkeit niemand bestritt,
dem Publikum vermittelt werden? Ein allgemein gültiges Rezept
wurde nicht angeboten. Man plädierte aber beispielsweise für
ein Einbringen unabhängiger Produktionen in die öffentlichen
Medien. Dem Trend der Privatsender, leichtgängige Filmmusik
als New Classics zu präsentieren, müsse man das wirklich
Neue entgegensetzen.
Die Komponisten sollten aber, worauf Eggert Wert legte, dabei nicht
nur Nabelschau betreiben, sondern sich auch den Fragen der Gesellschaft
öffnen. Die Suche nach neuen Aufführungsorten und neuen
Publikumsschichten ist demnach weiterhin aktuell.
Was als Aneinanderreihung einzelner sehr individueller und oft gegensätzlicher
Statements begonnen hatte, gewann am Nachmittag übergreifende
Konturen. Europäische Gemeinsamkeiten entwickelten sich nicht
zuletzt beim Blick auf die durchweg kommerziell orientierten USA,
deren Neue-Musik-Szene sich kaum so entwickelt hätte, wäre
sie nicht vom alten Europa aus ständig gefördert worden.
In Bezug auf die Ernste Musik ist die Alte Welt immer noch relativ
vorbildlich. Könne man nicht, so regte Reinhard Flender an,
einen paneuropäischen Sender für zeitgenössische
Musik einrichten?
Auch Konrad Boehmer forderte weitere integrative Projekte für
Europa. Die Berliner Diskussion verglich er abschließend mit
einem Traubensaft aus verschiedenen Reben, der sich schon zu einem
guten Wein zu entwickeln begänne, gewiss nicht zu Essig. Um
im Bild zu bleiben: Um eine billige Nachahmung der Coca-Cola der
heutigen Spaßgesellschaft sollten sich die Ernsten Komponisten
gar nicht erst bemühen.