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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 48
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Kulturpolitik
Kick mal
Der Fluch des Kritikers
Stefan Meuschel, Geschäftsführer der Vereinigung deutscher
Opernchöre und Bühnentänzer e.V. (VdO) nahm eine
Rezension von Reinhard J. Brembeck über Glucks „Orphée
et Eurydice“ in der Bayerischen Staatsoper („Süddeutschen
Zeitung“ vom 22. Oktober 2003) zum Anlass, über das Thema
Kritik und Operntheater nachzudenken.
Reinhard J. Brembeck beklagt sein beruflich bedingtes Missgeschick,
sich offenbar zu Tode zu langweilen, wenn er auf der Bühne
„die ewig gleichen Geschichten“ immer wieder auf’s
Neue über sich ergehen lassen muss. Doch statt daraus die Konsequenz
zu ziehen, seinen Beruf zu wechseln oder daran zu denken, dass nicht
alle Theaterbesucher Kritiker sind, dass viele Theaterbesucher die
alten Geschichten zum ersten Mal in der Vorstellung erzählt
bekommen oder dass sie aus Liebe zu den alten Geschichten sie sich
zum zweiten, dritten, vierten Mal erzählen lassen oder dass
sie die alten Geschichten sich auch einmal von anderen Sängern,
Dirigenten erzählen lassen wollen – nein, Reinhard J.
Brembeck verallgemeinert sein professionelles Leiden und fordert
den „Kick“ auf der Bühne für alle, nur auf
dass er nicht einschlafe.
Das liest sich denn so – und es verdient, langsam gelesen
zu werden: „Ein Fluch lastet auf dem Theater. Der Fluch, die
ewig gleichen Geschichten immer wieder zu erzählen. Immer wieder
wird die treu naive Desdemona von ihrem heroisch doofen Othello
erwürgt, immer wieder finden sich Tristan und Isolde nur in
der Musik und nicht im Bett.“ (Ein Tipp des Kritikers für
die nächste Tristan-Inszenierung?)
„Welch merkwürdiges Phänomen: dass der Mensch sich
an großer Musik sehr viel langsamer abhört, als er der
Erzählungen müde wird.“ (Gibt es im Tristan keine
große Musik?) „Schuberts ;Spinnrad-Gretchen‘ vermag
selbst beim achtzigsten Mal zu bannen, aber Geschichten erschöpfen
sich schneller, besonders auf dem Theater. Sie brauchen die Erneuerung,
die Mode, den Kick, den bisher übersehenen Aspekt, um frisch
wirken zu können, um dem Zuschauer“ (gemeint ist natürlich
der Kritiker, der alles schon kennt) „die Illusion zu geben,
sie erstmals zu hören…“ (weil er andernfalls Seit‘
an Seit‘ mit Brembeck einschläft).
Wenn Brembeck dann noch dialektisch arg kobolzend unterstellt,
„weiten Teilen der Bevölkerung dürfte“ die
Geschichte von Orpheus und Eurydike „noch heute geläufig
sein“, weil sie „zu jenen Relikten der längst in
den Hades abgewanderten Bildung“ gehöre, „durch
die das deutsche Bildungssystem“ die Bevölkerung „so
nachhaltig geschädigt“ habe, dann heißt das im
Klartext: Da die bildungsgeschädigten Theaterbesucher gleich
mir, dem Kritiker, die Orpheus-Geschichte bis zur Ermüdung
kennen, darf sie auf der Bühne nur mit modischem Kick und unter
Herauskitzeln bisher übersehener Aspekte erzählt, das
heißt inszeniert werden. Was lehrt uns das? Inszenierungen
müssen gekickt werden, weil der Kritiker sonst dem Fluch des
Theaters erliegt und einschläft. Und die Regisseure müssen
kicken, weil sie der Kritiker sonst nicht bemerkt (siehe oben: weil
er nämlich schläft).
Da bleibt wenig Raum, dem ratsuchenden Leser der Kritik behilflich
zu sein oder gar die künstlerischen Leistungen zu beschreiben
und zu bewerten. Ist womöglich der Kick-geile Kritiker der
auf dem Theater lastende Fluch?