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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 5
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Musikwirtschaft
Subversion als Innovationsmotor
Musikkonzerne unter dem Druck von Internet-Tauschbörsen
Neue technische Möglichkeiten und ihre ökonomischen Perspektiven
werden oft nicht zuerst von saturierten Großunternehmen wahrgenommen.
Der Computergigant IBM beispielsweise hatte in der zweiten Hälfte
der 70er-Jahre den das folgende Jahrzehnt prägenden fulminanten
Durchbruch von Mikrocomputern und deren Betriebssystemen völlig
unterschätzt. Und die großen Pharmakonzerne taten sich
noch in den 80er-Jahren zum Teil sehr schwer mit den ökonomischen
Potentialen der Gentechnik, die so gar nicht zu ihren lange Zeit
erfolgreichen Strategien der chemisch synthetisierten Arzneimittelherstellung
passten.
Erste Anstöße zur Aneignung und Kommerzialisierung neuer
technischer Möglichkeiten kommen auch heute oft von noch nicht
etablierten und kaum visiblen neuen Akteuren: Bastlern, Hackern,
Softwareentwicklern, lose verbundenen Subcommunities oder technologieorientierten
Start-up-Firmen, die mit ihrem Treiben bisweilen in der Lage sind,
eingespielte Geschäftsmodelle und lange Zeit erfolgreiche Forschungs-,
Produktions- und Vertriebsstrukturen der etablierten Konzerne aufzumischen
und neu zu sortieren.
Besonders deutlich ist dies derzeit im Umfeld der Musikindustrie
zu beobachten – einer hochkonzentrierten Branche, die weltweit
zur Zeit von fünf Konzernen beherrscht wird: Auf Universal
(USA; Marktanteil 25,9 Prozent), Sony (Japan, 14,1 Prozent), EMI
(Großbritannien; 12,0 Prozent), Warner (USA; 11,9 Prozent)
und die Bertelsmann Music Group BMG (Deutschland; 11,1 Prozent)
entfallen zusammen 75 Prozent des Weltmarktes. In Zukunft werden
nur noch vier, eventuell sogar nur noch drei Major Player den Markt
beherrschen: Sony Music und BMG werden, sofern die Kartellbehörden
dem stattgeben, ihre Musiktöchter zusammenlegen, und auch zwischen
Warner Music und EMI gibt es Fusionsgespräche.
Die Koordinaten des Geschäftsfeldes waren lange Zeit stabil:
Stars entdecken und promoten, Platten beziehungsweise CDs in konzerneigenen
Studios produzieren, sie zu pressen und zu vertreiben, war bis in
die neunziger Jahre ein sehr einträgliches Geschäft der
Konzerne, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch die Umstellung
von Schallplatten auf CDs und die damit verbundene Zweitverwertung
ihrer Backkataloge noch einmal gepusht werden konnte.
Diese Konstellation erodiert seit Ende der neunziger Jahre –
maßgeblich vorangetrieben durch drei komplementäre technologische
Entwicklungen, deren Auswirkungen die Branche zunächst ignoriert
und unterschätzt hat: Zum einen sind Musik oder Filme heute
digitale Güter, die sich beliebig und ohne Qualitätsverlust
kopieren lassen. Zum anderen hat sich das Internet in den vergangenen
Jahren in rasanter Geschwindigkeit als ideales Medium des weltweiten
Austauschs derartiger Produkte etabliert. Und schließlich
ermöglichen neue Standards der Datenkomprimierung wie MP3 und
Advanced Audio Coding (AAC) den problemlosen Austausch und Download
auch datenintensiver digitaler Produkte.
Diese technologischen Innovationen treffen auf ein verändertes
Konsumentenverhalten: Insbesondere jugendliche Drifter nutzen zunehmend
die Möglichkeiten des legalen Kopierens und des nicht ganz
so legalen Tauschs von Musik über das Internet. Die Zahl der
verkauften CD-Rohlinge hat in den vergangenen Jahren sprunghaft
zugenommen – in Deutschland um 42 Prozent allein von 2001
auf 2002 – und übertrifft mittlerweile deutlich die Verkaufszahlen
bespielter CDs, die in den vergangenen drei Jahren weltweit um circa
30 Prozent zurückgegangen sind. Darüber hinaus ist der
Download von Musik aus dem Internet in den vergangenen Jahren zu
einem Massenphänomen geworden: Mittlerweile werden bis zu drei
Milliarden Titel pro Monat, vermittelt über Tauschbörsen
wie Kazaa, Morpheus oder Grokster, kostenlos aus dem Netz gezogen,
während im selben Zeitraum im Schnitt lediglich circa 170 Millionen
CDs verkauft werden. Allein die Musiktauschbörse Kazaa verzeichnet
zu Hochzeiten bis zu drei Millionen Zugriffe pro Tag; bis zum Sommer
diesen Jahres haben sich über 250 Millionen User das dazu notwendige
Softwareprogramm aus dem Netz heruntergeladen.
All dies hat zusammen mit einer allgemeinen, konjunkturbedingten
Kaufzurückhaltung der Musikkonsumenten seit Ende der 90er-Jahre
zu konstanten Umsatzrückgängen im CD-Verkauf geführt
– allein im ersten Halbjahr 2003 sind die Umsätze in
Deutschland um 16 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen
– und der Branche eine tiefe Restrukturierungskrise beschert.
Insbesondere ihre frühere Monopolstellung beim Verkauf von
Musik steht im digitalen Zeitalter zur Disposition.
Musikindustrie: Reloaded
Nachdem sie zunächst vom Boom des Online-Musiktauschs völlig
überrascht worden waren, haben die Musikkonzerne in jüngster
Zeit zu reagieren und zurückschlagen begonnen – und zwar
mit fünf parallel verfolgten strategischen Ansatzpunkten.
1. Defensive Strategien: Rechtsstreits und Schadenersatzklagen
Vor allem in den Vereinigten Staaten gehen die Musikkonzerne und
ihr Branchenverband, die Recording Industry Association of America
(RIAA) rechtlich gegen Tauschbörsen, Hacker und Einzelpersonen
vor. Im Herbst 2003 hat RIAA von Internet-Zugangsanbietern die Identifizierung
von Nutzern erzwungen, die unter Verdacht stehen, in großem
Umfang illegal Musik getauscht zu haben, und Klage gegen zunächst
261 Personen erhoben. Und auch in Deutschland haben die Phonoverbände
Mitte des Jahres damit begonnen, zunächst informelle Abmahnungen
an individuelle Nutzer von Tauschbörsen zu verschicken. Abschreckung
durch Kriminalisierung ist das Ziel dieser Übung.
2. Restriktive Strategie I: Digital Rights Management (DRM)
Über neue Datenverschlüsselungs- und Kopierschutzsysteme
wird zudem versucht, mit Hilfe technischer Restriktionen zu regeln,
was ein Nutzer mit der von ihm gekauften Musik tun darf und was
nicht. CDs werden zunehmend mit einem Kopierschutz versehen. Aber
auch die über kommerzielle Online-Musikangebote wie über
den „iTunes Music Store“ von Apple vertriebene Musik
wird kodiert: Die gekaufte und heruntergeladene Datei lässt
sich nur am Computer des Käufers und an zwei weiteren öffnen.
Parallel dazu arbeiten Hard- und Softwarehersteller an neuen, kopiersicheren
Computern mit fest installierten Verschlüsselungschips und
Betriebssystemen, die unkontrolliertes Kopieren und die Verwendung
von Raubkopien unterbinden sollen. Dies sind Versuche, vorhandene
technische Möglichkeiten des Datentransfers mit technischen
Mitteln wieder einzufangen und zu begrenzen.
3. Restriktive Strategie II: Novellierung des Urheberrechts
Da jedes technische Kopierschutz- und DRM-System zum Beispiel durch
findige Hacker geknackt werden kann, wird parallel dazu Druck auf
die Politik ausgeübt, das illegale Kopieren und die Umgehung
von Kopierschutzsystemen über Neuregelungen des Urheberrechts
auch rechtlich zu unterbinden. Die Stoßrichtung entsprechender
Gesetzesinitiativen ist eindeutig: Den Anbietern digitaler Produkte,
also zum Beispiel den Musikkonzernen, wird das Recht zugestanden,
die Verwendung ihrer Produkte nach dem Verkauf beliebig einzuschränken.
Und den Nutzern soll verboten werden, Musik aus dem Netz herunterzuladen,
ohne dafür zu bezahlen, Kopierschutzsysteme zu knacken beziehungsweise
zu umgehen und Musik zu tauschen.
4. Proaktive Strategien: Kommerzielle Online-Musikangebote Nach großen Anfangsschwierigkeiten und ersten fehlgeschlagenen
Versuchen haben sich 2003 die ersten kommerziellen, von allen großen
Musikkonzernen belieferten Internet-Angebote etabliert. Der vom
Computerhersteller Apple betriebene „iTunes Music Store“,
der im April startete und bislang nur von den drei Millionen US-amerikanischen
Apple-Besitzern genutzt werden kann, hat bis Ende August zehn Millionen
Downloads aus dem Angebot der fünf großen Musikkonzerne
verkauft und gilt mittlerweile als erfolgreicher Prototyp kommerzieller
Online-Musikangebote. Vom Erlös gehen zwei Drittel an die Musikkonzerne,
ein Drittel bleibt bei Apple. Angelehnt an das Apple-Modell ist
im September in Deutschland die Business-to-Consumer-Plattform „Musicload“
gestartet, die von T-Online International, Europas größtem
Internet-Provider, betrieben wird – ebenfalls mit Titeln aller
großen Labels. Vor dem Start steht überdies die Business-to-Business-Plattform
„Phonoline“ der Telekom-Sparte T-Com. Dies ist eine
Musikhändlerplattform, die Musik nicht an Endverbraucher, sondern
an Internet-Zwischenhändler verkauft, die dann auch den Endverbraucherpreis
bestimmen. Mit diesen Aktivitäten scheinen die Musikkonzerne
im digitalen Zeitalter angekommen zu sein und den Online-Verkauf
ihrer Produkte als neuen, expansiven Vertriebskanal angenommen zu
haben. 15 bis 20 Prozent des Branchenumsatzes, so die Hoffnung der
Konzerne, sollen in wenigen Jahren über diesen Kanal erzielt
werden.
5. Kompetitive Strategien: Fusionen und Preiskrieg Schließlich wird die Konsolidierung der Musikbranche auch
mit klassischen Mitteln vorangetrieben: mit Fusionen und Preiskriegen.
Sony und BMG Music wollen durch Fusion ihre Marktmacht erhöhen.
Und vor dem Hintergrund sinkender Verkaufszahlen und von Marktanalysen,
die zeigen, dass über die Hälfte der US-Konsumenten keine
CDs mehr kauft, weil sie zu teuer sind, hat der Branchenführer
Universal unlängst und für alle Mitkonkurrenten überraschend
seine Großhandelspreise für CDs in den USA flächendeckend
um bis zu einem Drittel gesenkt – mit dem Ziel, seine Marktführerschaft
über die Preiskonkurrenz zu stabilisieren. Nicht unwahrscheinlich,
dass sich damit die Zeit prohibitiv hoher Preise für CDs dem
Ende nähert.
Perspektiven
Die aus ihrem Dornröschenschlaf erwachten Imperien haben
also begonnen zurückzuschlagen – mit rechtlichen Schritten,
mit technologischen Restriktionen und mit dem proaktiven Aufbau
eines kommerziellen Online-Musikhandels. Ein Königsweg zur
Lösung der Branchenprobleme ist dies freilich nicht: Die Entdeckung
und Vermarktung neuer Stars wird immer schwieriger und aufwendiger,
der Verbleib und die subversive Verbreitung ihrer Produkte im Internet
wird sich mit keiner technischen Rafinesse lückenlos kontrollieren
lassen und Strategien der Kriminalisierung und Abschreckung tragen
nicht unbedingt zur Verbesserung des ohnehin lädierten Images
der Branche bei.
Vor allem die Kriminalisierung und Beschränkung des privaten
Tauschs und Kopierens von Musik – ein essentieller Teil der
Jugendkultur, den nicht erst das Internet erfunden hat – ist
kontraproduktiv und lenkt von der eigentlichen Herausforderung ab:
Musikfreaks und -liebhaber als Käufer über akzeptable
Verkaufspreise sowie qualitativ hochwertige und flexibel handhabbare
neue Online-Angebote zurückzugewinnen.
Ulrich Dolata
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift „Blätter
für deutsche und internationale Politik“ Heft 11/2003
(www.blaetter.de).