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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 38
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Jazz, Rock, Pop
Nachschub
Labels, Pop-Subjekte
Das regt die Fantasie des Kulturkritikers an/auf: Landauf landab
werden immer neue „Superstars“ so hautnah am Reißbrett
designt, bis sie beides sind: so authentisch, als wären sie
Volkes Stimme und Körper in persona – und so glamourös,
dass sie die unerfüllten Wünsche ihrer Konsumenten zumindest
virtuell, in einer „bigger than life“-Scheinwelt erfüllen.
Und noch zwei Medienriesen, Sony und BMG, fusionieren, um das Musikgeschäft
in den Griff oder zumindest die Kosten unter Kontrolle zu bekommen.
Das ist die Identitätspolitik der Konzerne: Stars werden im
Klonverfahren hergestellt, bis sie einander und den künstlichen
Träumen ihres Publikums bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln.
Individualität wird zum Rest: einem Tick oder einem Accessoire,
die fetischartig ausgestellt werden. In der Welt der Warenästhetik
regiert der Wiederholungszwang. Nicht nur bei den Autoproduzenten
hat sich die Plattformstrategie durchgesetzt: Aus ein paar seriellen
Elementen, die beliebig kombinierbar sind, werden „Marken“
zusammengebaut, die ihre Eigenheit nur vortäuschen.
Aber der kulturkritische Blick täuscht oder neigt dazu, Wichtiges
zu übersehen. All die billigen Info-Grafiken, die zeigen sollen,
wie das Weltreich der Musik jetzt, nach der deutsch-japanischen
Elefantenhochzeit, aussieht, kennen nämlich eine Terra incognita,
die eher wächst: Ein Viertel des Markts ist nicht (mehr) unter
der Kontrolle der Konzerne. Dort, im Dschungel der Independents,
im Chaos der kleinen Labels, wo sich jeder Profitsteigerer hoffnungslos
verläuft (die Milliarden Euro für eine rasch sich entwertende
Backlist saisonaler „Superstars“ wie Britney Spears
verbrennende „Zomba“-Übernahme durch Bertelsmann!),
wuchert die Neue Musik, entstehen jeden Tag neue Arten, das heißt:
Genres, Projekte, Gruppen, Subjekte. Die Welt der Labels ist die
der Schöpfung; und ihre Identitätspolitik lautet: Erzeugung
von Differenz.
Während die kommerziellen, synthetischen Superstars so tun
müssen, als seien sie „Persönlichkeiten“,
während jede Abweichung sofort mit Ausschluss bestraft wird,
sind die Pop-Subjekte in der Welt der kleinen Labels so eigen, dass
die Identitäten ohne weiteres schillern und gleiten können.
Das rhizomatische „Hausmusik“-Unternehmen ist ein hervorragendes
Beispiel: dort gibt es mittlerweile eine Fülle von Bands (Notwist,
Console, Tied and Tickled Trio), die sich patchworkartig aus wenigen
Musikern zusammensetzen. „Identität“ ist nicht
mehr eine chimärische Eigenschaft von Personen, sondern charakterisiert
Projekte, Arbeitszusammenhänge, Konzert- und Alben-Folgen.
Die Devise lautet: Wenn ich mit anderen kooperiere, werde ich ein
anderer.
Dort, wo es überhaupt noch Pop-Subjekte gibt, sind sie dezentriert.
„Ich ist ein anderer“ hieß das einst bei Rimbaud.
Identität ist nicht Sache eines „Wesens“, sondern
eines Zusammenhangs. Die Eigenheit eines Labels, seine Logik und
sein „Regime“ wird erst nach und nach in der Serie seiner
Veröffentlichungen sichtbar. Anders als die großen Konzerne,
zu deren verlogener Selbstdarstellung es gehört, dass sie die
„Entscheidungen“ ihrer „Künstler“ „respektieren“,
erzeugen in der Welt der Indies nicht die Musiker, sondern die Labels
Identität: eine sehr flexible und fluide freilich, weil jedes
Projekt, jede Veröffentlichung das, was schon war, und das,
was noch kommen kann, neu definiert.
Labels sind riskante und deshalb oft kurzlebige Unternehmen. Dabei
gibt es zwei gegensätzliche Gefahren: dass die Identität
des Labels zu eng gefasst wird; es bindet sich dann zu ausschließlich
an ein bestimmtes Genre oder einen Stil; es bewahrt (einen bestimmten
Augenblick, eine zwangsläufig vergängliche Form von Intensität),
es exkludiert (alles andere). Solche Labels werden rasch historisch,
eine Sache von Sammlern, Liebhabern, zum Soundtrack einer Nische.
Die andere Gefahr ist die zu große Offenheit, wie sie etwa
zu Punk-Zeiten Alfred Hilsberg mit seinem Motto „Lieber zu
viel als zu wenig“ verkörperte. Wer nur noch inkludiert,
um nur ja nichts zu verpassen oder zu verdrängen, entwertet
den eigenen Katalog. Denn es gehört ja zur Identität von
Labels, dass jedes Album im Licht aller anderen erscheint.
Ein Label wie SST vermied eine Zeit lang die beiden Fallen (Exklusion/Inklusion)
sehr souverän. Der Ausgangspunkt war und blieb klar: die avantgardistische,
auch bruitistische Post-Punk-Musik. Aber das Label war nie puristisch,
musealisierte nicht auf fatale Weise eine Haltung, einen Standpunkt
oder auch musikalische Erfindungen, sondern empfand sich als Ort
des entstehenden Neuen. Die Faszination war nicht die eines Blueprints,
der die Identität einer Serie garantiert, sondern einer Roadmap:
Wohin kann ich von hier aus gelangen (ohne mich zu verlieren). SST
veröffentlichte anarchoiden oder politisch korrekten Hardcore
der frühen 80er-Jahre (Black Flag, Minutemen), entdeckte aber
rasch auch, wie man von Post-Punk ausgehend scheinbar abwegige Genres
(Country, Folk) reformulieren und bis dato reaktionäres Terrain
mit allen zugehörigen Gefühlen, Sehnsüchten und „Körpern“
umkodieren kann. Das war „Hüsker Dü“ und die
Folgen. SST ermöglichte aber auch eine Neuaneignung der Free-Jazz-Avantgarde
der Sixties im erweiterten Pop-Kontext (Universal Congress of),
begann darüber aber zu zerbrechen. Ein erfolgreiches Label
kann sich mit der Zeit überflüssig machen. Stabiler kann
unter Umständen ein Label wie New Rose sein, das nicht Produktions-
(und Politik-)Zusammenhänge schafft, sondern Einzelgängern,
großen Solitären eine Heimat gibt. Hier wirkt das Extrem
der Differenz (die nicht kastrierte „eigene Stimme“,
das ganz und gar Eigene des Lebensnotats) identitätsstiftend.
Im House- und New- Electronica-Kontext gibt es derzeit sogar so
etwas scheinbar Paradoxes wie Identität durch Identitätsverwischung,
-verweigerung, -diffusion. Was bleibt ist das Label als Bezug, als
Ort der Evolution, als „Welt“.