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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 37
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Jazz, Rock, Pop
Tiefe Einsicht in musikalische Prozesse
Ein Nachruf auf den Musikwissenschaftler, Musiker und Autor Peter
Niklas Wilson
Er zählte zu den scharfsinnigsten und zugleich zu den sensibelsten
Autoren, die sich der improvisierten und der Neuen Musik zuwandten.
Seine Ernsthaftigkeit, seine Genauigkeit im Detail, sein Talent,
in großen Zusammenhängen zu denken, neue Verknüpfungen
herzustellen und den Klängen auf den Grund zu gehen, machten
ihn unverwechselbar: Peter Niklas Wilson.
Peter Niklas Wilson. Foto:
P. Bastian
Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns nicht völlig überraschend
und doch wehrte sich alles in mir, sie als Fakt hinzunehmen. Lange
Zeit kämpfte Peter Niklas gegen eine schwere Krankheit an,
schien dann bereits auf dem guten Weg der Genesung, als sich plötzlich
Rückschläge einstellten. Ich sah ihn zuletzt Ende September
beim Jazzforum in Darmstadt, wo er referierte. Klug wie immer und
mit seinen Thesen über einen Paradigmenwechsel in der improvisierten
Musik – weg von der redseligen Praxis, hin zu einer Kunst
der Reduktion – auch zur kontroversen Diskussion herausfordernd.
Peter Niklas Wilson wirkte von der Krankheit gezeichnet, doch er
wollte sie überwinden, offenbarte einen enormen, noch beinahe
heiteren Lebensmut. Tragisch die unverrückbare Gewissheit:
Peter Niklas Wilson starb am 26. Oktober im Alter von 46 Jahren
an den Folgen der Leukämie. Er war bis zuletzt aktiv, beseelt
von einem Arbeitsethos als Autor. Seine feinsinnige Art offenbarte
er als Musikpublizist ebenso wie als improvisierender Musiker, als
Kontrabassist in zahlreichen Spielkonstellationen mit von ihm initiierten
Ensembles, auch im Zusammenspiel mit Musikern wie Derek Bailey,
Malcolm Goldstein, John Tchicai und Anthony Braxton. Über Anthony
Braxton hat Wilson ein exzellentes Buch geschrieben – nicht
aus einer Fan-Perspektive, sondern aus der tiefen Einsicht in die
musikalischen Prozesse, gleichermaßen Biografie und Werkanalyse,
dabei anschaulich und spannend zu lesen. Das gilt ebenso für
die anderen Monografien von Peter Niklas Wilson: Bücher über
Ornette Coleman, Miles Davis, Sonny Rollins und Albert Ayler. Mit
dem Jazz bestens vertraut und an der Hamburger Musikhochschule Geschichte
des Jazz lehrend hat er über den Jazz hinausgedacht und seine
musikalische Heimat in einer improvisatorischen Praxis gefunden,
die eine klangliche Nähe zur Neuen Musik offenbart. Peter Niklas
Wilson war aus eigener Erfahrung bewusst, wie improvisierte Musik
in einer von Crossover- und Event-Strategien beherrschten Kulturlandschaft
an den Rand gedrängt wird. In seiner Essay-Sammlung „Hear
and Now“ schrieb er: „Frei improvisierte Musik hat keinen
Raum – sie muss sich ihre Räume suchen. Sie ist Fremdkörper
in den etablierten Foren des Musikbetriebs, seien es Jazzklubs oder
Konzertsäle. Sie ist darauf angewiesen, Exklaven, Reservate
zu etablieren. Das macht ihre Schwäche im Musikleben aus und
ist doch zugleich ihre Stärke. Denn improvisierte Musik muss
nicht nur ihre Räume finden, sondern kann sich auch den Raum
aneignen wie keine andere Musik.“
Was das Aneignen von sozialen Räumen anbelangt, so hat Peter
Niklas Wilson solidarisches Verhalten an den Tag gelegt, oft lange
Anfahrten mit dem Kontrabass in Kauf nehmend, um an Treffen improvisierender
Musiker und Musikerinnen teilzunehmen. Er war Mitbegründer
der Musikerinitiative „TonArt“ und des Plattenlabels
„True Muze“. Bei aller Verbundenheit mit der Praxis
beklagte der Autor Peter Niklas Wilson, dass Jazzkritik zunehmend
propagiert, anstatt zu analysieren und kritisch zu hinterfragen.
Eben das zählte zu seinen Stärken: die kompromisslose,
auch zum Widerspruch herausreizende und die Polemik nicht scheuende
Auseinandersetzung mit Phänomen der improvisierten und der
Neuen Musik. Dabei hat er Einsichten vermittelt, nicht nur kritisch
seziert, sondern auch Unerhörtes nahegebracht – in zahllosen
Artikeln und Essays für Zeitungen und Fachzeitschriften ebenso
wie in einer Vielzahl von Sendungen für zahlreiche deutschsprachige
Rundfunksender. Gleichermaßen mit improvisierte Musik und
neuer (komponierter) Musik vertraut wusste er, Vorzüge und
Schwachstellen beider Bereiche aufzuzeigen, Parallelen und Wechselwirkungen
bewusst zu machen. Noch in den letzten Wochen seines Lebens erschien
sein neues Buch „Reduktion – Zur Aktualität einer
musikalischen Strategie“.
Bei aller Neigung zur Nachdenklichkeit brachte Peter Niklas Wilson
auf seine Art auch Glücksgefühle zum Ausdruck. „Improvisation“,
schrieb er in „Hear and Now“, „ist die Feier des
Jetzt. Sie ist eine Lebenshaltung, eine Sprache mit individuellen
Vokabularen. Die Gewissheit der Unwiederbringlichkeit verbindet
Musiker und Publikum zu einer Gemeinde, die das Ritual Improvisation
zelebriert.“ Anfang November, beim Total Music Meeting in
Berlin über das Verhältnis von Bildender Kunst und improvisierter
Musik referieren: „Die weiße Leinwand“. Uns bleibt
das Schweigen und das Nachdenken, natürlich auch all das, was
er hinterlassen hat – und das ist weit mehr als das Nachzulesende
und das Nachzuhörende, das ist die lebendige Erinnerung an
einen besonderen, einen besonders sensiblen und besonders integren
Charakter.