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nmz 2003/12 | Seite 18
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen

Südamerikanische Vitalität, zarte Miniaturen

CDs mit Klaviermusik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Zwei zum Budget-Preis angebotene, zyklische Einspielungen der Klaviersonaten von Prokofieff liegen nun geschlossen vor und bieten willkommenen Anlass, sich auch einmal mit den seltener zu hörenden Werken zu befassen. Peter Dimitriew gestaltet den Werdegang Prokofieffs vom Rachmaninoff-Adepten über den jungen Wilden hin zum abgeklärten Meister, von der spätromantisch-überschäumenden Virtuosität zur düsteren, zuweilen aggressiv-dämonischen Groteske griffig und überzeugend nach. Was diese pianistisch überaus ergiebige, dabei eigenartig unpersönliche Musik an zusätzlichen Feinheiten und Zwischentönen zulässt, erschließt vollends erst das Spiel eines Bernd Glemser, dessen vor vier Jahren entstandene Deutung der Sonaten 5, 6 und 9 erst vor kurzem erschien. Nur eines verstehe ich nicht: Wenn ohnehin komplette Zyklen geplant waren, warum wurde dann die Gelegenheit versäumt, die schillernden frühen Sonaten der Jahre 1908 bis 1917, denen man sämtlich – wie der Nr. 4 – den Beinamen „Aus alten Notizbüchern“ geben könnte, sowie die Trias der „Kriegssonaten“ Nr. 6–8, opp. 82–84 jeweils auf einer CD zusammenzufassen?

Ähnliche Fragen wirft die nächste Edition auf: Fünf Interpreten sind angegeben, doch auf den drei einzelnen CDs von Luis Gianneo (1897–1968) sind nur Werke für einen Pianisten zu hören. Des Rätsels Lösung? Die in Mendoza wirkende argentinische Klavierprofessorin Dora De Marinis versammelte im August 2000 eine Woche lang einige ihrer Schülerinnen und Schüler um sich, um gemeinsam die (vollständigen?) Klavierwerke ihres Landsmannes einzuspielen. Leider lässt sich kein System erkennen, nach dem die überwiegend miniaturhaften Stücke Gianneos auf die Pianisten verteilt wurden. Auch hätte ich eine chronologische Reihung begrüßt, die sich an den vier Schaffensperioden des Argentiniers orientiert hätte. Von jugendlichen Romantizismen ausgehend (Klaviersonate Nr. 1), sorgen – etwa in den drei Präludien aus den 20er-Jahren – bald Elemente südamerikanischer Folklore für lokales Kolorit. Der dominierende Einfluss Strawinskys bringt neoklassizistische Verfahrensweisen ins Spiel, die Gianneos dritte Periode prägen. Aus ihr stammt ein Großteil seiner Klaviermusik, darunter die an Prokofieff erinnernde Suite von 1933 und die Sonate Nr. 2. Eine vorsichtige Annäherung an die Dodekaphonik prägt Gianneos letzte Jahre; hierfür steht die nochmals sprödere dritte Sonate. Da es sich fast komplett um Ersteinspielungen – manchmal sogar aus dem Manuskript – handelt, kommt der genaue Einführungstext von Frau De Marinis sehr gelegen. Leider erschwert die unnötig wirre Präsentation eine angemessene Beurteilung von Gianneos Klavierschaffen, das erst in der Musik für Kinder ganz zu sich selbst zu finden scheint.

„Children’s Corner“, ein Recital des nicht genug zu lobenden Duos Tal & Groethuysen, umspannt ein ganzes Jahrhundert – von Bizets meisterlichen „Jeux d’enfants“ (1872) bis hin zu Jean Françaix und seinen „15 Portraits d’enfants d’Auguste Renoir“ von 1971. Bei letzteren ist in der Tat vorgesehen, dass beim vierhändigen Spiel der Lehrer die Unterstimme, der Schüler die Oberstimme übernimmt. Respighis „sei piccoli pezzi“ und Casellas ungleich interessantere „Pupazzetti: 5 pezzi facili“ sind keine große, aber hübsche Musik, die man im Normalfall niemals so flüssig und schlackenlos gespielt hört. Zwei Erstaufnahmen lassen aufhorchen: Walter Gieseking hat sich im „Spiel um ein Kinderlied“ nochmals die Melodie von „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ vorgenommen, welche schon Mozart zu Variationen anregte, und Josef Dichler, ein Schüler Franz Schmidts, hinterließ uns immerhin drei gar nicht schumanneske „Kinderszenen“.

Heitor Villa-Lobos hat sich in seiner Klaviermusik, beginnend mit „Brinquedo de Roda“ (Kinderreigen, 1912), ebenfalls mehrfach der Welt der Kleinen zugewandt. Dass er daneben auch vorzügliche „erwachsene“ Stücke schrieb, ist zwei in Arbeit befindlichen Gesamteinspielungen zu entnehmen. Alma Petchersky (ASV) geht ihre Aufgabe für meinen Geschmack arg gediegen an; die temperamentvolle Sonia Rubinsky hingegen trifft stilistisch genau ins Schwarze und hat auch noch eine fulminante Klangtechnik auf ihrer Seite. Als heißen Tipp fürs Repertoire empfehle ich den mitreißenden „Ciclo Brasileiro“ von 1936 – man möchte kaum glauben, dass sentimentale Salonmusiken wie „Tristorosa“ oder der „Chôros No. 1“ vom gleichen Komponisten stammen.

Nach diesen Kostproben südamerikanischer Vitalität tun sich die zarten, mitunter liedhaft schlichten Miniaturen des mit Mompou befreundeten Katalanen Manuel Blancafort besonders schwer: Die sich auffallend ähnelnden Zyklen der ersten Folge dieser Gesamtschau, die parallel zueinander in den Jahren 1915 bis 1919 entstanden, wecken keine übermäßige Neugierde auf eine Fortsetzung – wofür ich weniger dem Interpreten als der Jugend des 1897 geborenen Komponisten die Schuld geben möchte. Zwar hat Miquel Villalba 15 bislang nicht publizierte Stücke berücksichtigt, doch ein weniger verhallter Querschnitt durch Blancaforts Klavierschaffen hätte dem Andenken des erst 1987 Verstorbenen besser gedient.

Diese vorsätzlich karge, weil auf die sangliche Linie konzentrierte Musik eines Talents aus der zweiten Reihe ist noch üppig zu nennen, stellt man sie der nahezu gleichzeitig entstandenen „Atonalen Musik“, dem op. 20 des genialisch-kauzigen Wieners Josef Matthias Hauer (1883-1959) gegenüber. 1922 in zwei Heften publiziert, erinnern die 20 einstimmig-ausdruckslosen Nummern an die neogotischen Spielereien Saties – denen sich Steffen Schleiermacher zur Zeit sogar in ihrer Gesamtheit widmet –, allerdings ohne dessen Sinn für Humor. Bekanntlich überwarf sich Hauer mit Schönberg über die Frage, wer von beiden die reine Lehre der Zwölftontechnik vertrete. Mit seiner Lehre von den 44 „Tropen“, in die er die melodischen Möglichkeiten der zwölf Töne eingeteilt hatte, begab sich Hauer zielstrebig ins historische Abseits, ohne sich davon die Freude an seinen „Zwölftonspielen“ verdrießen zu lassen, die er weiterhin in großer Zahl entwarf.

Neben diesen abstrakten Gebilden wirken die Klaviersonaten, die in jenen Jahren im Umkreis der Berliner Meisterklasse Franz Schrekers entstanden, umso geschwätziger: Die halbstündige, mit geradezu orchestraler Klangfülle auftrumpfende c-moll-Sonate des 25-jährigen Karol Rathaus will einfach kein Ende nehmen, aber auch die kürzeren Gattungsbeiträge der jungen Grete von Zieritz und des schon 1951 verstorbenen Jerzy Fitelberg konnten mich trotz des großen persönlichen Einsatzes von Kolja Lessing für dieses bislang (aus gutem Grund?) unerschlossene Repertoire rein musikalisch nicht überzeugen.
Ähnliche Risiken geht Steffen Schleiermacher mit seinen thematisch gebündelten Raritätenkabinetten ein: „Czech Avantgarde 1918-1938“ kombiniert Kostbarkeiten von Halbvergessenen mit Brosamen vom Schreibtisch bedeutender Tonsetzer. Die etwas steife „Suite op. 13“ von Pavel Haas fällt ein wenig aus diesem Rahmen und hätte stilistisch gut auf Kolja Lessings CD gepasst. Umso besser fügt sich der ein dreiminütiges Schweigen verordnende Mittelsatz der „Fünf Pittoresken“ von Erwin Schulhoff aus dem Jahre 1919 ein: Er trägt die Bezeichnung „In futurum. Zeitmaß-zeitlos“ und nimmt Cages „4’33'’“ um Jahrzehnte vorweg. „Equatorial Rag“, „Bugatti-Step“ und die ernsteren „Bagatellen“, die Jaroslav Jezek um 1930 mit lockerer Hand aufs Notenpapier warf, rezipieren (und replizieren) die Tanzmusik jener Zeit noch direkter als die uns mittlerweile vertrauten Jazz-Aneignungen Schulhoffs. Wie wir hier erfahren, war auch Bohuslav Martinu der unterhaltenderen Klänge nicht abhold.
Was jedoch die harmlosen, nur wenige Takte umfassenden musikalischen Tagebucheinträge aus Leos Janáceks letzten Jahren in diesem Kontext zu suchen haben, bleibt Schleiermachers Geheimnis - genauso, wie sich Busonis Bearbeitung eines Bach-Chorals auf die „Hommage an Walter Spies“ verirrt hat. Walter Spies (1895-1942) war eine schillernde Künstlerpersönlichkeit, über die Schleiermacher jahrelang immer wieder stolperte – und das nicht nur auf der Insel Bali, Spies’ Wahlheimat ab 1927, sondern auch in Briefen und Büchern seiner Zeitgenossen. Das breit gefächerte Repertoire seiner CD speist sich zu zwei Dritteln aus Werken, die noch dem künstlerischem Umfeld des in Russland geborenen Deutschen entstammen: Walters Intimus Hans Jürgen von der Wense, der 1922 als „der Zukünftigste“ unter den Avantgardisten galt, Walters Bruder Leo Spies, dazu Skrjabin, Krenek und Erdmann - alle kannte er persönlich. Das letzte Drittel des Programms gilt den ersten, nur teilweise geglückten westlichen Versuchen, die Faszination des Gamelan zunächst durch Transkriptionen (von Colin McPhee und Spies selbst), dann in kleinen Kompositionen (vor allem von Alexandre Tansman) einzufangen. Fazit: Obwohl beide Schleiermacher-CDs in Wort und Ton Wissenslücken schließen und faszinierende Zusammenhänge aufzeigen, bezweifle ich, ob man sie ein zweites Mal ganz hört.

Anders sieht es bei der neuesten Aufnahme von Kathryn Stott aus, die kürzlich schon mit ihrer Schulhoff-CD verblüffte: Endlich gibt es von Koechlins pianistischem Hauptwerk „Les Heures Persanes“ eine Alternative zu Herbert Hencks lange zurückliegender ECM-Pioniertat! Es ist fürwahr nicht einfach, im Verlaufe dieser einsamen und in sich gekehrten Beschwörung von Stimmungen des Orients, die in getragenen Tempi und intimen Lautstärken abgehalten wird, eine gute Stunde lang das Interesse wach zu halten – weshalb Koechlin auch eine Fassung für Orchester anfertigte. Der geneigte Hörer sollte sich während der „Persischen Stunden“ Pausen gönnen – auch die imaginäre Reise erstreckt sich über zwei Tage (Koechlin war vor Entstehung des Zyklus 1913-19 selbst in Norafrika). Die Reiseführerin Stott bewältigt die Herausforderung an ihr Gestaltungs- und Schattierungsvermögen mit Bravour; für diese Aufgabe bedarf es eines echten Musikers - ein bloßer Virtuose scheitert an ihr.

Ein solcher allerdings ist die Grundvoraussetzung, sich an die exorbitant schwierigen, Busoni um Längen übertreffenden kontrapunktischen Ungetüme des Kaikhosru Sorabji (1892-1988) überhaupt heranzuwagen – nach wie vor wird seine Musik nur von solchen Pianisten gepflegt, die ihn noch persönlich kannten – Geoffrey Douglas Madge und eben Michael Habermann, der etliche Werke auf seiner neuen CD uraufführte und nun auch als Erster einspielte. Sorabjis Spezialität waren Transkriptionen (im Sinne von Erschwerungen) bereits existierender Klavierstücke (am liebsten von Chopin, das hatte er mit Godowsky gemeinsam) sowie bis zum absurden Exzess getriebene, stets vielstimmig angelegte Variationsreihen. Ein Beispiel für ersteres wäre die 1940 entstandene Klavierfassung von Bachs „Chromatischer Fantasie und Fuge“, ein Beispiel für Letzteres die fünfteilige „Passegiata Veneziana“ (1956), die auf Jacques Offenbachs „Barcarolle“ aus „Hoffmanns Erzählungen“ beruht.

Dass jemand es mitten im 20. Jahrhundert noch so spätestromantisch wuchern lässt, wäre für sich kaum erwähnenswert; doch bei keinem anderen Komponisten (nicht einmal in Bachs Spätwerk) habe ich Polyphonie derart sich verselbständigen hören. Hätte Glenn Gould von Sorabji erfahren – sie wären womöglich Freunde fürs Leben geworden.

Mátyás Kiss

Diskografie

Sergej Prokofieff: Klaviersonaten Vol. 1; Peter Dimitriew; Arte Nova/BMG 74321 85291 2; Vol. 2: 74321 93316 2; Vol. 3: 74321 94407 2 (auch als Box erhältlich)

Sergej Prokofieff: Klaviersonaten 5, 6 und 9; Bernd Glemser Naxos 8.555030

Luis Gianneo: Klavierwerke; Alejandro Cremaschi, Elena Dabul, Dora De Marinis, Pervez Mody und Fernando Viani,
Vol. 1: Sonaten Nr. 2 und 3, Sonatina u.a. (1933-57); Marco Polo/Naxos 8.225205
Vol. 2: Musik für Kinder u.a. (1931-47) 8.225206; Vol. 3: Sonate Nr. 1, 3 Präludien u.a. (1913–28); 8.225207.

Children’s Corner: Klaviermusik von Bizet, Casella, Dichler, Françaix, Gieseking und Respighi; Yaara Tal & Andreas Groethuysen; Sony SMK 89943

Heitor Villa-Lobos: Klaviermusik Vol. 3: Suite Floral, Ciclo Brasileiro, Brinquedo de Roda u.a.; Sonia Rubinsky Naxos 8.555286

Manuel Blancafort: Sämtliche Klavierwerke, Vol. 1. Miquel Villalba Naxos 8.557332

Josef Matthias Hauer: Atonale Musik op. 20. Steffen Schleiermacher MDG/Naxos 613 1180-2

Franz Schrekers Meisterklassen in Wien und Berlin – Vol. 2: Klaviersonaten von Rathaus, Fitelberg und von Zieritz; Kolja Lessing; Ed. Abseits/Klassik Center EDA 019-2

Czech Avantgarde: Piano Music 1918-1938 (Haas, Jezek, Schulhoff u.a.); Steffen Schleiermacher MDG/Naxos 613 1158-2

Hommage à Walter Spies (Werke von Erdmann, von der Wense, Krenek u.a.); Schleiermacher; MDG 613 1171-2

Charles Koechlin: Les Heures Persanes, op. 65; Kathryn Stott; Chandos/Codaex CHAN 9974

Kaikhosru Sorabji: Klaviermusik und Transkriptionen (von Bach, Chopin, Ravel); Michael Habermann; BIS/Klassik Center CD 1306

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