[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 17
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen
Wunder Fiorentino.
Ein verkanntes Pianisten-Genie
Dieser Fall ist ein Skandal für die ganze musikalische Welt.
Überall hören wir die endlosen Klagen über den Niedergang
des Klassik-Business. Dass dies ein seit einem halben Jahrhundert
anhaltender, an die hemmunsglose Kommerzialisierung gebundener,
schleichender Verfall ist, den erst das Naxos-Phänomen entscheidend
beschleunigte, ist weniger bekannt. Kein Wunder, sei eingewendet,
wenn man Musiker vom Range Sergio Fiorentinos schlichtweg übersieht
und zu Randerscheinungen des Betriebs degradiert. Natürlich
ist er (wie übrigens auch Eduard Erdmann und Marcelle Meyer)
nicht in der Philips-Pianisten-Edition enthalten. Ernst Lumpe hat
mich auf Fiorentino aufmerksam gemacht, jener selbstlose Kenner
und Mäzen, der mit hinter den meisten der nun vorliegenden
CD-Produktionen steht, als Ermöglicher der gesamten Aufnahmen
aus später Zeit, als Informant, Fotograf und Mäzen. Ein
wahres Wunder an überragender Musikalität enthüllt
sich beim Anhören dieser Aufnahmen, die den Pianisten und Musiker
Fiorentino — ähnlich wie etwa Michelangeli, Lipatti oder
auch Gulda — als genialische Erscheinung ausweisen.
Sergio Fiorentino auf dem
Cover der Bach-CD bei APR (Musikwelt)
Sergio Fiorentino starb am 22. August 1998 im Alter von 70 Jahren.
Nicht einmal in seiner italienischen Heimat war er zu jenem Zeitpunkt
ein Star. In Neapel geboren, holte er 1947 in Monza den ersten Preis
(in der Jury war Michelangeli) und im Jahr darauf gewann er bei
den Wettbewerben in Neapel und Genua. Carlo Zecchi wurde ein entscheidender
Mentor. Schnell machte Fiorentino internationale Karriere. 1953
debütierte er in der New Yorker Carnegie Hall.
Doch war 1954 während einer Südamerika-Tournee das Flugzeug,
in dem er saß, zu einer Notlandung gezwungen, bei der er sich
eine Wirbelsäulen-Verletzung zuzog. Erst nach Jahren konnte
er wieder konzertieren, hatte jedoch den Anschluss an das Establishment
verloren. Vielleicht wollte er auch einfach nicht mehr so weitermachen
wie zuvor. Zwischen 1954 und 1967 machte er mehr als 30 LPs für
das kleine Label Concert Artist, die in Kennerkreisen höchste
Schätzung erfuhren. Er spielte nun vor allem regelmäßig
in Großbritannien, doch wurde er des Reiselebens überdrüssig
und lehrte nun bis 1993 am Konservatorium in Neapel. Erst in den
letzten Jahren gab er wieder vermehrt Recitals.
Was macht nun seine besondere Kunst aus? Zunächst die späten
Jahre, nehmen wir Schubert. Keinen außer Eduard Erdmann kenne
ich, der so tief in die spezifische Welt der großen Sonaten
vorgedrungen wäre. Die vollendete Ausformung der Details, die
innige Sanglichkeit, das intuitive Erspüren des modulatorisch
Wesentlichen, die Durchsichtigkeit der Faktur und völlig unkonventionelle
artikulatorische Wendigkeit, gepaart mit einer Leichtigkeit und
Brillanz des Pianistischen, einer nie versiegenden Noblesse und
Aristokratie, die ihresgleichen suchen: All das wird gebündelt
in einem unbestechlichen Sinn für lebendige, organische Formung,
die nie den einmaligen Zusammenhang vergisst, in welchem jede Einzelheit
ihre spezifische Funktion ausübt. Und zauberhafter, hinreißend
beherrschter dürften Schuberts Impromptus nirgendwo zum Entstehen
gebracht worden sein. Oder Bach: Wie kann einer riskieren, der Allemande
aus der 4. Partita die scheinbare Endlosigkeit einer Viertelstunde
zuzugestehen, ohne dass der Hörer nur einen Moment der Länge
spürte – unerschöpfliche Poesie und Konzentration,
ein innerer Monolog, der keines Zuhörers mehr bedarf, diesen
aber reich beschenkt. Man merkt, dass dieser Musiker an einem anderen
Ort angekommen ist, dass er nichts mehr will. Sein Arrangement der
g-moll-Sonate für Solo-Violine ist übrigens von erlesenem,
stilsicherem Geschmack und verdiente, auch von anderen ins Repertoire
aufgenommen zu werden. Fiorentinos Schumann ist zwar romantische
Fantastik, voll von Zauberei und Mystik, aber weniger äußerlich
fiebrig als sonst. Von herrlicher Deutlichkeit im Plastischen ist
sein Scriabin, in der zweiten Sonate fesselnd und vital von der
ersten bis zur letzten Note, ohne jegliche Phasen undeutlichen Raunens.
Bei Prokofieff gibt es Grenzen des Ausdrucks – das obsessiv
Aufbegehrende, sich martialisch Entladende, der „Schmutz“,
das revolutionär Gleißende: Fiorentino mag sich dafür
nicht hergeben, unterwirft alles einer unerschütterlichen Nobilität.
Rachmaninoff liegt ihm umso mehr und veredelter als unter seinen
Händen kann man sich diese (in der ersten Sonate so weit ausufernde)
Musik nicht vorstellen. Auch Chopin ist natürlich seine Welt,
ohne den geringsten Anflug klischeehafter Sentimentalität erstehen
die Werke mit feinst ausziselierter, geistdurchdrungener Monumentalität.
Zu gerne möchten wir jetzt auch seinen Scarlatti, Haydn oder
Brahms hören. Dafür gibt es live eine großartig
durchmessene späte As-Dur-Sonate (op. 110) von Beethoven, mit
untrüglichem Sinn für entschiedenen Charakter, weitgespannte
Entwicklung, das Ausmaß der Kontraste. Herbe Linearität
und Reichtum der Farben, virtuose Spielfreude und transzendente
Geistigkeit sind bei Fiorentino in souveräner Balance, ohne
das Spontane, improvisatorisch Empfundene auszulöschen. Nirgends
wird es zu statischem Exerzitium.
Nichts anderes gilt für die früheren Aufnahmen. Wann
hätte man Liszt mit solcher seriösen Lebhaftigkeit und
kontemplativen Clarté vorgetragen gehört? Schumanns
Kreisleriana oder Ravels „Valses nobles“ und „Gaspard
de la nuit“ sind (live) von unendlicher Nuanciertheit bis
in die entlegensten Verschattungen, aber stets mit dem unzweifelhaften
Zug ins Große, soghaft als Prozess, der angesichts der Schönheiten
ständig zum Verweilen einlüde. Mit Orchester ist Fiorentino
in entlegenen Werken zu hören, die nie sonst in solcher Qualität
festgehalten worden sein dürften: Busonis „Indianische
Fantasie“ in traumverlorenen Stimmungsbildern, Casellas „Scarlattiana“
(ein kurios-antiromantisch-diatonisches Divertimento über 88
Scarlatti-Themen mit Kammerorchester) als Spielzeugladen feinsten
Kunstgewerbes, mediterran stimmungsvoll das neoklassizistische Concerto
von Emilia Gubitosi (1877–1972). Aber kehren wir zurück
zum großen Repertoire, zu Mozart, Beethoven, Chopin und Liszt.
Das Strukturelle bei letzteren Klaviergöttern erhält eine
Präzision und Fasslichkeit, das Gewohnte weit hinter sich lassend,
führt jedoch die so essenzielle Dimension des Unbefangenen
aus dem Moment Entstehenden immerzu mit sich und wird so nie zur
Demonstration. Beethoven hat alle Gewalt des Konflikts, das Pathos
der Revolution, die Flügel umfassend tönender Poesie.
Fiorentino erliegt nicht den so geläufigen Gefahren des Überhastens,
Aufdonnerns, Belehrens, des rhetorischen Diskurses. Alles ist reflektiert
und alles ist frisch, unmittelbar. Dieselben Qualitäten prägen
sein Mozart-Spiel, welches ein absoluter Glücksfall ist, was
Präsenz, Transparenz, Kantabilität, Schlichtheit auf der
Grundlage erlesenster Raffinesse und blitzschnelle Flexibilität
auf der Grundlage nicht ins Wanken zu bringender Kontinuität
(dies nicht nur auf die Tempofrage bezogen) angeht. Natürlich
kann man im Einzelnen anderer Ansicht sein. Doch wesenhafter ist
diese Musik schwerlich zu erfassen.
Christoph Schlüren
Sergio Fiorentino auf CD
Späte Aufnahmen Scriabin: 2. Sonate, Rachmaninoff: 2. Sonate, Prokofjeff:
8. Sonate; APR 5552
Chopin: 3. Sonate h-moll, Schubert: Sonate B-Dur D 960; APR 5553
Chopin: 1. und 4. Sonate, Rachmaninoff: 2. Sonate; APR 5556
J. S. Bach: Partiten Nr. 1 B-Dur und Nr. 4 D-Dur, Violin-Solosonate
g-moll (transkr. S. Fiorentino); APR 5558
J. S. Bach: Französ. Suite Nr. 5 G-Dur, Präludien, Fugen,
Bearbeitungen; APR 5559
Schumann: Fantasie C-Dur op. 17,
2. Sonate g-moll op. 22, Arabeske op. 18, Novelette op. 21/1,
Romanze op. 28/2, 2 Lied-Transkriptionen; APR 5560
Schubert: Sonaten a-moll D 537 und A-Dur D 664, 4 Impromptus D
899; APR 5561
Fiorentino live 1993 in Deutschland: Beethoven: Sonate As-Dur
op. 110, Chopin: 2. Sonate b-moll, Scriabin: 4. Sonate, Bach/Busoni:
Präludium & Fuge D-Dur, Schumann, Liszt/Gounod, J. Strauß/Tausig
bzw. Godowsky, Chopin, Tschaikowsky, Brahms; 2 CDs APR 7036
Fiorentino live 1962–87: Debussy: Estampes, Images I &
II, L’isle joyeuse etc., Schumann: Kreisleriana, Ravel:
Valses nobles et sentimentales, Gaspard de la nuit etc.; 2 CDs
Fabula Classica 29902-2
Frühe Aufnahmen (1954–67)
„The Contemplative Liszt“: Weinen, klagen, sorgen,
zagen, 6 Consolations, Nuages gris, La lugubre gondola, Unstern!
etc.; APR 5581
„The Virtuoso Liszt“: 6 Ungarische Rhapsodien, Grande
Fantasie sur la Clochette, Gnomenreigen, 2. Grande Etude de Paganini,
Grand galop chromatique; APR 5582
Liszt: Années de Pèlerinage (Suisse, Venezia e Napoli);
APR 5583
Liszt: 2. Klavierkonzert A-Dur, 1. Mephisto-Walzer, Spozalizio,
Ab irato, 5 ungar. Volkslieder, Weber: Polonaise brillante, Chopin:
Fantasie über polnische Weisen; Guildford Philharmonic Orch.,
Vernon Handley; APR 5584
Fiorentino live mit Orchester 1959–72: Busoni: Indianische
Fantasie, Casella: Scarlattiana, Emilia Gubitosi: Concerto (1943);
RAI-Orchester Neapel und Rom, M. Freccia, F. Scaglia, P. Maag;
Fabula Classica 29908-2
Mozart: Sonaten KV 283, 309, 310, 311; Concert Artist CACD 9220-2;
Mozart: Sonaten KV 330, 331, 332; CACD 9221-2
Mozart: Sonaten KV 457, 545, 570, 576, Fantasie c-moll KV 475;
CACD 9222-2
Beethoven: Sonaten As-Dur op. 22, Es-Dur op. 27/1, D-Dur op. 28;
CACD 9204-2
Beethoven: Sonaten Op. 10 Nr. 1–3, Fis-Dur op. 78; CACD
9207-2
Beethoven: Sonaten Es-Dur op. 7, G-Dur op. 79, c-moll op. 111;
CACD 9212-2
Chopin: Fantasie f-moll op. 49, Scherzi Nr. 1–4, Berceuse
op. 57, Barcarolle op. 60; CACD 9231-2
Chopin: 26 Mazurken; CACD 9200-2
Liszt: 12 Etudes d’exécution transcendante; CACD
9201-2
Vertriebe: APR bei Musikwelt, Fabula Classica bei Bella Musica,
Concert Artist über amazon.com.