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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 28
52. Jahrgang | Dez./Jan.
ver.die
Fachgruppe Musik
Neulich bei Aldi
Kulturpolitik von der Palette
Wahrhaben wollen wir es nicht. Im tiefsten Herzens wissen wir
es seit langem. Wenn Ketzer es herausposaunten, hörten wir
weg. Jetzt aber ist es offensichtlich: Die Sozialdemokratisierung
der Kultur kann man nur ein Desaster nennen. Inzwischen ist es ein
Gemeinplatz: Sozialdemokratie und Kultur schließen einander
aus. Was die Genossen (darf man das eigentlich noch sagen?) in 100
Jahren (Fatalismus macht großzügig) nicht hinbekamen
und wohl auch längst nicht mehr wollen (Bochum!), liegt jetzt
komplett auf den Paletten bei Aldi.
Zugegeben, die Bekehrung der Altachtundsechziger gestaltete sich
langwieriger als von den Albrecht-Brüdern gedacht. Sie lief
auch nicht über den Verstand. Sie lief über den Bauch
mit Schampus, kaltgepresstem Olivenöl und Kaviar samt Kochbuch.
Heute hat das Aldi-Kochbuch eine höhere Auflage als der komplette
Bebel. Den halten manche Sozialdemokraten für den Produzenten
einer goldenen Taschenuhr, die nach irgendeinem unerklärlichen
Ritual weitergereicht wird. Angeblich soll es bei den Sozialdemokraten
auch noch ein Programm geben. Genaues weiß man nicht. Deshalb
lässt Aldi gerade in rotes Kunstleder gebundene Bücher
in die Verkaufshallen schieben. Kramt man erfolgreich nach der Lesebrille,
entdeckt man, dass da nicht „Bebel”, sondern „Bibel”
draufsteht. Aber die Stiftung Warentest hat soeben bekannt gegeben,
dass sie das Buch mit „gut” bewertet, ebenso die signierten
Grafiken namhafter Künstler, die im Rahmen für weniger
weggehen als eine Museumseintrittskarte in manch einer sozialdemokratisch
geführten Kommune kostet.
„Sehr gut” müsste die Stiftung Warentest als Prädikat
für die Noten vergeben, die Aldi derzeit ebenfalls anbietet.
Es handelt sich zwar um gut abgehangene Werke, die der Programm-Computer
beständig für Sendungen wie „Klassik zum Frühstück”
ausspuckt, immerhin sind sie so jedoch öffentlich-rechtlich
und gehören zur Grundversorgung der Bevölkerung. Blöde
ist nur, dass immer weniger Kommunen die Grundversorgung der Bevölkerung
mit Musikschulunterricht anbieten. Oder sie haben die Gebühren
für den Musikschulunterricht derart verteuert, dass man sich
bei Aldi zwar die Noten leisten kann und ein Klimperding für
99,99, jedoch nicht den Unterricht, um spielen zu können. (Lesen
kann man sie seit Pisa ja schon gar nicht.) Ein echtes Dilemma also.
Der Ruf nach der Politik, zumal der sozialdemokratischen, wäre
vergeblich. Selbst wenn Lidl demnächst Klaviere (aus Rumänien?
Stiftung Warentest vermutlich garantiert „sehr gut”)
anbieten sollte und der toom-Baumarkt (Rewe) Blockflöten aus
Echtholz (made in Vietnam), würden die Politiker „keinen
Handlungsbedarf” erkennen: Preiswerte Noten – Musikschulen
als kommunale Pflichtaufgabe? I wo!
Wir müssen wohl auf den guten Namen von Aldi bauen und so
lange warten, bis der Discounter irgendwann Politiker im Angebot
führt. „Made in Germany” werden die nicht sein,
sozialdemokratisch schon gar nicht. Eins aber ist gewiss: Die Schlangen
vorm Aldi werden die Zahl der Wähler bei manchen Kommunalwahlen
um Längen übertreffen.