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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 35
53. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Klare Tinte, rote Tinte, Soldatenblut
Franz Kafkas „Strafkolonie“ als Oper „Die sechste
Stunde“ von Johan Maria Rotman in Gera
Seit Hans Werner Henzes „Landarzt“ (1951) und Gottfried
von Einems „Prozess“ (1953) üben Erzählungen
und Romane Franz Kafkas auch auf Komponisten unverminderte Anziehungskraft
aus. Das jüngste Ergebnis erlebte kurz vor dem Totensonntag
im großen Geraer Haus des Theaters Altenburg-Gera seine Uraufführung:
Johan Maria Rotmans Oper „Die sechste Stunde“ frei nach
der Erzählung „In der Strafkolonie“ von Franz Kafka.
Der Librettist Gerard Harleman stand vor dem schwer lösbaren
Problem, die im Grunde aus einem inneren Monolog bestehende, bis
in Einzelheiten genaue und ausführliche Erzählung in knappe
Worte, Bilder und Aktionen zu fassen.
Denn alles Wesentliche dieser 1914 entstandenen Erzählung
wird einem (imaginären?) Reisenden von einem Offizier der Strafkolonie
erzählt, der für eine Foltermaschine und die Hinrichtungen
im Lager verantwortlich ist: die Charakterisierung des alten Lagerkommandanten
und Konstrukteurs der furchtbaren Foltermaschine, die grausige Art
der sechs Stunden währenden Hinrichtungen ohne Prozess zum
Tode Verurteilter. Für den seit der Berufung eines neuen Kommandanten
unsicher gewordenen Offizier genügen aber wenige Fragen des
für einen Inspekteur oder Forscher gehaltenen Reisenden und
dessen Weigerung, über die Vorgänge zu schweigen, um in
der sechsten Stunde den jüngst Verurteilten plötzlich
freizulassen und sich selbst in der Maschine zu richten.
Die Oper setzt diese Beschreibungen als bekannt voraus und begnügt
sich zur Charakterisierung des alten Kommandanten wie des Offiziers
mit protzig gesungenen Phrasen wie „Schönheit... Kraft...
Stahl, Rückgrat, in reiner Form geschaffen... klare Tinte,
rote Tinte, Soldatenblut... Schuld steht immer fest...“ Andererseits
drücken nur wenige Worte die Angst des Offiziers aus. So wirkt
die plötzliche Freilassung des Verurteilten und der Selbstmord
des Offiziers wenig motiviert. Da hilft auch die von den Autoren
erfundene Fremde mit ihren anklagenden Worten nicht viel. Diesem
Mangel begegnet die Inszenierung, indem der Reisende als Reporter
unentwegt in allen möglichen Stellungen seine Videokamera betätigt
und so die Ängste des Offiziers verstärkt.
Da ist es gut, dass dem Theaterbesucher mit dem Programmheft in
handlicher Form und preiswert auch das Libretto und die Erzählung
Kafkas angeboten werden (wie das Aufführungsmaterial vom kleinen
Leipziger Ebert-Musikverlag EMV hergestellt).
Außer der Fremden fügten die Autoren auch zwei Chorgruppen
in das Geschehen ein. Sechs Männer (in schwarzen kurzen Hosen
und weißen Kniestrümpfen) besingen stupide zustimmend
die Zustände in der Strafkolonie. Sechs Frauen (in Dirndl-Kleidern,
mit langen Zöpfen) fordern in der Manier hysterischer Nazissen:
„Sehen wollen wir Opfer... Täter sehen bei der Arbeit“.
Mit verändertem Charakter agiert der Verurteilte. Den beschreibt
Kafka als zermürbtes, willenloses Subjekt. In der Oper kriecht
er schnell in die Uniform des Offiziers und prahlt: „Jetzt
bin ich wer“. Die Berufung auf Befehle aktualisiert gewiss
das Geschehen, doch die Schärfe der Kafkaschen Anklage erreicht
dieser Text schwerlich.
Der entspricht eher die Musik Johan Maria Rotmans. Der Text wird
über weite Strecken deklamatorisch behandelt. Sperrige Intervallführungen
schaffen dabei den Kafkaschen Intensionen nahe kommende Spannung.
Die fördert auch die auf drei getrennt postierte Instrumentalgruppen
aufgegliederte Instrumentation (I: Hörner, Oboen und Fagotte,
II: Schlagwerk, Klavier und Harfe, III: Streicher). Der Gesamteindruck
erweist sich aber als zwiespältig. Doch fordert das Ganze auf
alle Fälle zum Nachdenken heraus.
Für die Inszenierung dieser Uraufführung gewann das
Theater mit Johann Kresnik einen Künstler von außergewöhnlichem
Format. Der beginnt die Vorstellung mit Türen knallen: Die
Fremde auf der einen Seite und deren von Kresnik erfundenes tänzerisches
Alter Ego (Daniela Greverath) auf der anderen stürzen schwarz
gewandet (Ausstattung: Constanze Kümmel und Lucia Schautz)
mit den Worten „Sehen möchte ich Bilder“ in den
Zuschauerraum. Wie dabei die Tänzerin sich durch und über
die Stuhlreihen des ausverkauften großen Geraer Hauses zwängen
muss, ruft stummen Protest betroffener Theaterbesucher hervor. Doch
dann geht es ohne Störungen weiter. Zunächst verschließt
ein hoher Bretterzaun die Bühne. Wenn der sich nach den Vorderseiten
öffnet, verschließt ein weiterer zwischen hohen Zementsäulen
die Hinterbühne und die Seiten.
Das Geschehen bestimmt zu einem großen Teil die fantasievolle
Gestaltung pantomimischer Vorgänge. Die für Sopran geschriebene
Partie des Offiziers und den Koloratursopran des Kommandanten versteht
Kresnik aber nicht als Überspitzung dieser fragwürdigen
Gestalten, sondern nutzt er, um den Offizier als überdrehtes
Frauenzimmer und den Kommandanten als dicke Vettel, im Schlussbild
mit nacktem Hängebauch von beträchtlichem Ausmaß
vorzuführen. Da kommt unangebrachte Komik auf, wo es blutig
ernst zugeht.
Einem Theater wie Altenburg-Gera als Auftraggeber stellt eine
derartige Uraufführung außergewöhnliche Aufgaben.
Das Opernensemble Altenburg-Gera widmet sich ihnen mit großem
Einsatz und beachtlichem Können.