[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 34
53. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Mit globalem Blick auf Etabliertes und Rares
Matrix – das Herbstfestival für klingende Kunst in
Leipzig
Stacheldraht ist hierzulande ästhetisch, die Konzerte unsere
Versicherung des Friedens. Dort: Ziegen haben die Herrschaft übernommen,
staksen gemächlich durch die Ödnis. Niemandsland zwischen
Militärparade und Gameboy. Bilder der ersten Szenerie aus dem
geteilten Zypern. Absperrband gibt es auch bei diesem mitunter bizarren
Festival für zeitgenössische Musik. Nicht ganz zufällig,
denn Neue Musik ist Kunst und bleibt ein Eigenes. Individualität
ist verknüpft mit dem Besitz, Matrix ein fruchtbares Gewebe.
Alles muss verschoben werden:
Newski mit „Figuren im Gras“. Foto: Matrix
Mikrofone, Lautsprecher, Schein- werfer, Mischpult, Projektor,
Laptop und Kabel sind Dinge der zweiten Szenerie (auch sie ein Mutterboden).
Es scheint eine gelungene Bevölkerung des Raumes. Zwei Kameras
observieren die Vorstellung, machen es dem Publikum gleich: Kunst
als bespanntes Revier.
In der Verlängerung des Absperrbandes befindet sich ein Weg,
als dessen Konsequenz eine Maultrommel aufgelegt ist: der Stacheldraht.
Péter Köszeghys Aktion „Zaun“ (Pieta) ist
wie er selbst dick befrachtet (Viel nackte Haut wurde versprochen,
ein großer Bauch ist da, blau angeleuchtet). Das Rauschen
der PA hebt an, ein technisches Problem wird gelöst, ein digitaler
Zeigefinger erscheint auf der Wand, die Klänge des primitiven
Instrumentes werden elektronisch verzerrt. Mit dem Stacheldraht
im Konzertsaal ist dies durch TV und Foto längst geschehen.
Ganz weich im Wind dagegen Yoshihisa Tairas „Synchronie“
für zwei Flöten. Ein asiatischer Atem, vital und virtuos.
Verbunden ist die Sprache der Natur mit der des Menschen. Die Flöte
ist Instrument dieser Meditation.
Auch Sergej Newski hat komponiert. Titus Engel und das Ensemble
Courage wissen, wie seine „Figuren im Gras“ moduliert
werden müssen. Ganz spärlich und vollkommen dynamisch.
Absturz oder Zug, immer an der Grenze. Alles muss verschoben werden.
Als Köszeghy wiederkommt, gibt er „Sexus-Nexus-Plexus“.
Er selbst bezeichnet sich als gesellschaftskritischen Klangkünstler
grenzüberschreitender Hörerlebnisse und soll nach dem
Willen der Festivalmacher zur Verhandlung der Erotik beitragen.
Mit weißem Tuch und orangenem Plastikeimer behängt, irrt
er in die Mitte des Saales. Reißt, schmiert rotfärbend,
geht zum Notenpult und beginnt zu grunzen. Ein Lehrstück für
die Verpackung eines Schreies. Es klingt nach Krieg, dabei ist Frieden
ausgebreitet. Wenn ein Künstler schreit, verblutet keine Welt
(nur noch angemalt möglich). Statt herzkranker Haft Kapital
zum ausdefinierten Saft (für Tonband).
Wie auch der Abschluss des Herbstfestivals für klingende Kunst
am 5. Dezember zeigte, war die Veranstaltungsreihe durchgehend vor
allem von der Schnittstelle zwischen Musik und Medienkunst inspiriert.
Bei Konzerten, Installationen, Soundscapes und Ausstellungen wurden
mit den Motiven nature, home, erotic, east und religion über
acht Wochen und an verschiedenen Orten verzahnende und kontextuierende
Hintergründe für die Wahrnehmung von Kunst angeboten.
Dabei gelang dem künstlerischen Leiter Thomas C. Heyde ein
multiperspektivisches Spektrum. Mit globalem Blick auf Etabliertes
und Rares (Lachenmann, Gubaidulina, Ikromova) gleichermaßen,
Einladung für radikale Grenzgänger (Nicolai, Cortes) sowie
Reminiszenz an das reiche sächsische Fundus (Ensemble Courage,
F.Schenker, B.Franke) ist ihm und dem Forum für zeitgenössische
Musik Leipzig eine wundervolle Ausstaffierung des dichten künstlerischen
Horizontes gelungen und eine mutstraffe Position glücklich
bezogen. Wer wagt, gerät.